Spuren einer komplizierten Identität
von Klaus-Peter Möller
Als Rechtsanwalt Paul Meyer den Eheleuten Fontane im Februar 1892 das gemeinsame Testament zur Unterschrift vorlegte, hatte er hinter dem Namen von Emilie Fontane eine Lücke gelassen. Offenbar wusste er nicht, was für einen Geburtsnamen er eintragen sollte. Fontane griff zur Feder und setzte den Namen von Emilies Adoptivvater Kummer ein. Beide Eheleute unterzeichneten wie gewöhnlich. Am 7. März 1892 wurde die letztwillige Verfügung auf dem Königlichen Amtsgericht I Berlin in einem versiegelten Paket deponiert. An diesem Tag und als das Testament am 14. Oktober 1898 eröffnet wurde, unterschrieb Emilie feierlich und ernst: »Emilie Fontane, geb. Kummer«. Aber stimmt das überhaupt? In seiner Autobiographie Von Zwanzig bis Dreißig erklärte Fontane: »Ihr eigentlicher Name aber, den sie erst, früh verwaist, bei Gelegenheit ihrer im vierten oder fünften Jahre erfolgten Adoption abgelegt hatte, war Rouanet« (GBA, S. 351). Dabei lebte Emilies Mutter Thérèse Müller, geb. Rouanet, bis 1867, ihr leiblicher Vater, den sie nie kennengelernt hat, bis 1865. Und in die Kirchenbücher der Französischen Gemeinde zu Berlin wurde sie seit ihrer Hochzeit im Jahr 1850 stets mit dem Doppelnamen geb. Rouanet-Kummer eingetragen. Theodor Fontane jr. gab 1898 auf dem Standesamt Rouanet als Geburtsnamen seiner Mutter an, Friedrich Fontane 1902 Kummer. Der Name Müller verschwand dagegen komplett aus der Familientradition. Was lässt sich den amtlichen Lebensdokumenten von Emilie Fontane entnehmen? Wie sah sie sich selbst?
Taufeintrag – Dresden, 23. November 1824
Kirchliche Wochenzettel, Taufeintrag – Dresden, 23. November 1824
Frau Theresa verwitt: Müller
aus Mühlrosa, giebt zum Vater
an, Hrn: George Bosse, Battal=
ions=Arzt im └Preuss.┘ 28.n Landwehr=
Corps. (große Plauenschegasse
No. 470.)
Georgina Emilia Carolina
Das erste Wort, das in Emilies erstem Lebensdokument festgehalten wurde, dem Eintrag im Taufbuch der evangelischen Kreuzkirche in Dresden, ist »spur.«, die Abkürzung für lat. spurius (-a, -um), uneheliches Kind. Ihr Leben war von Anfang an mit einem schweren Stigma belastet. Sie war ein uneheliches Kind. Das ist der Grund, weshalb ihre Mutter zur Geburt nach Dresden ging, ins Ausland, wo Emilie am 14. November 1824 um 9 Uhr morgens geboren und am 23. November auf die Namen Georgina Emilia Carolina getauft wurde. Ihre Mutter Thérèse Müller (1790–1867), Witwe des verstorbenen Predigers Johann Heinrich Müller (1774–1817) aus Müllrose, war die Tochter von Jean Pierre Barthelemy Rouanet (1747–1837), der als Stadtkämmerer ein hohes gesellschaftliches Ansehen in Beeskow genoss. Als Paten wurden im Kirchenbuch drei Personen festgehalten. Louisa Rouanet war Thérèses Mutter. Wenigstens sie ist zur Taufe ihrer Enkelin nach Dresden gekommen. Über die beiden anderen ist so gut wie nichts bekannt. Es war eine Haustaufe. Bei wem Thérèse in Dresden wohnte, wurde noch nicht ermittelt.
Als leiblichen Vater gab Thérèse Müller den Bataillonsarzt George Bosse (1797–1865) vom 2. Bataillon des 28. Preußischen Landwehrcorps in Brühl bei Bonn am Rhein an. Der junge Militärarzt, am 15. Januar 1797 in Eilenstedt bei Halberstadt geboren, hatte 1817 seine Ausbildung an der Pépinière begonnen und diente seit 1820 als Escadronchirurg des 3. Preußischen Ulanen-Regiments »Kaiser Alexander II. von Rußland«, das in Fürstenwalde und Beeskow stationiert war. Am 1. März 1824 wurde er als Bataillonsarzt zum 2. Bataillon des 28. Preußischen Landwehr-Regiments in Brühl (bei Köln) versetzt. 1826 promovierte er an der Universität Gießen mit seiner Arbeit De cancro faciei. Am 12. Februar 1829 wurde er zum Garnisons-Stabs-Arzt in Saarlouis befördert, wo er am 30. Mai 1835 Sophie Clemens, die Tochter eines Notars, heiratete, mit der er fünf Kinder hatte. Am 27. März 1855 wurde ihm der Abschied mit Pension bewilligt. Er starb am 23. Oktober 1865.
Von seiner unehelichen Tochter soll Bosse nichts gewusst haben. Die genauen Angaben, die Thérèse zu seiner Diensteinheit machen konnte, lassen aber auch andere Szenarien möglich erscheinen. Aus der Biographie von Theodor Fontane ist bekannt, dass Mütter unehelicher Kinder mit einmaligen Zahlungen abgefunden wurden. Ob es auch in diesem Fall zu entsprechenden Forderungen kam? Das einzige, was an die Beziehung ihrer Eltern erinnert, ist der erste Vorname, auf den Emilie getauft wurde: Georgina, die weibliche Variante des Vornamens ihres leiblichen Vaters. Auch ihrem Erstgeborenen gab sie später diesen Namen.
Etwa 175 Jahre später führte der Zufall die Genealogen der Familien Fontane und Bosse im Lesesaal einer Bibliothek zusammen. Sie kamen miteinander ins Gespräch und stellten erstaunt fest, dass sie über dieselbe Person recherchierten – und miteinander verwandt waren. Die Nachkommen von Georg Friedrich Bosse waren überrascht, als sie von den familiären Beziehungen zu den Fontanes erfuhren. Klaus H. M. Ebert berichtete in den Fontane Blättern über die unerwartete Verwandtschaft.
Adoptions-Annonce – Berlin 1827 [?]
Emilie wurde von ihrem Onkel Jean August Alexander Rouanet (1783–1867) aufgenommen, der mit seiner Frau und seinen Kindern als Apotheker in dem kleinen Städtchen Wermsdorf bei Torgau lebte. Als sie drei Jahre alt war, wurde sie per Zeitungsannonce zur Adoption vermittelt. Der Text dieser Anzeige ist nur aus ihrer »Lebensnovelle« bekannt, wo sie ihn zitierte, als habe der Zeitungsausschnitt vor ihr gelegen, als sie ihre Erinnerungen niederschrieb:
Unter den zahlreichen Interessenten, die sich, wie Emilie vermutete, besonders wegen der in Aussicht gestellten großzügigen finanziellen Ausstattung des Kindes meldeten, wurde der Globenfabrikant Karl Wilhelm Kummer (1784–1855) ausgewählt, dessen Zuschrift sich durch besondere Herzlichkeit ausgezeichnet haben soll. Gemeinsam mit seiner Ehefrau Marie Dorothee, geb. Schulz, nahm er Emilie an Kindes statt an. Die gerichtlichen Unterlagen des Adoptionsverfahrens sind nicht überliefert. Als Emilie von ihrem Vormund Johann Ferdinand Wilhelmi abgeholt wurde, als sie sich aus dem Kreis ihrer vermeintlichen Geschwister gerissen sah, getrennt von ihren vermeintlichen Eltern, wehrte sich die Dreijährige, weinte und schrie derartig, dass der Vormund in Verdacht geriet, das Kind entführt zu haben.
Stiefvater Kummer, ein gutmütiger Tausendkünstler, lebte seine Papiermaché-Fabrik, die ihm viel Anerkennung einbrachte, und seinen Passionen. Aber für das angenommene Kind sorgte er wie für ein eigenes. Die Stiefmutter, die sich liebevoll um Emilie kümmerte, starb bereits 1831. Kummers zweite Ehefrau, die Witwe Maria May, geb. Lamprecht, hasste das fremde Kind und beschimpfte es mit Ausdrücken, die Emilie nicht verstand, darunter besonders kränkend »angenommener Panker«. Oft musste sich Emilie ihr Essen aus dem Hundenapf holen. Wenn sie sich weinend wünschte, bei ihren Eltern zu sein, höhnte ihre Stiefmutter: »Da kannst Du lange suchen.« Die Ehe wurde 1837 geschieden. Anlässlich ihrer Konfirmation im September 1839 erklärte Kummer seiner Pflegetochter Emilie, dass sie nicht sein leibliches Kind war. Es fiel ihm schwer, die richtigen Worte zu finden.
Briefe an die Stiefmutter Bertha Kummer
Kummers Haushalt wurde vorübergehend von einem Dienstmädchen geführt, das Emilie demütigend behandelte und vernachlässigte. Eine Zeitlang übernahm Elisabeth Sohm, die Mutter von Fontanes Tante Pinchen, das Regiment. Am 20. November 1839 heiratete Kummer die Herrnhuterin Bertha Kinne (1807-1870). Die Ehe wurde in der Dresdner Annenkirche geschlossen. Ängstlich richtete Emilie, nunmehr 13jährig, am 5. Oktober 1839 ein erstes, förmliches Schreiben an die Braut ihres Stiefvaters, eine Fremde, die fortan ihr Leben bestimmen sollte. Aber das herzliche, einfache Wesen ihrer neuen Stiefmutter hat das junge Mädchen sofort gewonnen. Fast 100 Briefe schrieb Emilie in den folgenden Jahren an Bertha Kummer, die eindrucksvoll zeigen, wie sehr sie sich danach sehnte, zu einem Menschen zu gehören, von ihm angenommen, geliebt zu werden und ihm ihre Liebe und ihr Vertrauen zu schenken. Emilies Verhältnis zu ihrer leiblichen Mutter blieb dagegen zeitlebens kühl und distanziert. Als Mama Triepcke, wie Thérèse wegen ihrer zweiten Ehe mit dem Oberförster Karl Gottlob Triepcke (1777–1856) in der Familie genannt wurde, am 2. Mai 1867 in Beeskow starb, entschied sich Emilie dagegen, zu Regelung ihrer Hinterlassenschaft und zur Beerdigung zu reisen. Ihrem Mann erklärte sie am 5. Mai, sie wollte vermeiden, dass die wahren Familien-Verhältnisse bekannt würden.
Dresden d 28ten Dez. 39.
Geliebte Mutter!
Wie soll ich Dir, meine gute, gute Mutter meine große Freude beim Empfange Deines lieben Briefes schildern. Die wahre, mütterliche Liebe, die sich wiederum darin ausspricht, rührte mich bis zu Thränen. Ja, ich will Deine Wünsche, die mein Wohl betreffen, erfüllen, ich will den lieben Gott recht bitten, daß er mir Kraft dazu giebt, damit ich zu Eurer Freude lebe. Für eure vielen freundlichen Gaben, habt recht recht herzlichen Dank, leider trafen sie mich krank an, ich hatte eine so starke Halsentzündung, daß der Arzt fürchtete, ich würde das Nervenfieber bekommen, jetzt geht es aber ganz gut.
Zu dem neuen Jahre wünsche ich Euch Gottes Segen, möge er Euch unter seinem Schutz u. Schirm nehmen, u. Euch vor Krankheit u. Unglück bewahren, dann ist mein größter Wunsch erfüllt.
Bitte grüße den guten Vater recht herzlich, u. danke Ihn in meinen Namen recht sehr, auch die gute Marie, bitte grüße u. danke. | Gern hätte ich noch mehr geschrieben, allein die Zeit drängt sehr. Alle, Alle grüßen recht herzlich, die gute Tante Auguste hat mich recht reichlich beschenkt.
Lebet recht wohl, bitte gebt mir im Gedanken eine Hand u. einen Kuß.
Deine Dich
aufrichtig liebende
Tochter Emilie.
Für die 2 Thaler, mit denen mich Eure Liebe bedacht hat, werde ich mir ein Kleid kaufen, indem ich den Thaler den ich durch die Güte des Onkel Kummers zu W erhalten habe, hinzulege. Von Jeden bin ich hier zu W[eihnachten]. bedacht worden, jedoch von der Tante Auguste am Meisten.
Verlobung – Berlin, 8. Dezember 1845
So schwierig und komplex die Gründung einer Familie für Emilie sein musste, die Eheschließung war für sie beinahe die einzige Chance, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, sich selbst neu zu definieren und eine angesehene bürgerliche Identität zu erlangen. Ihren Traumprinzen Theodor Fontane, einen dichtenden Apothekerlehrling, im Übrigen grundsolide, lernte sie in der Nachbarschaft kennen. Er nahm die Dinge nicht leicht, wenn er auch gern die humorvolle Seite hervorkehrte. Über die Verbindlichkeit seiner Verlobung mit Emilie Kummer am 8. Dezember 1845 war er sich zunächst nicht recht im Klaren, weshalb er sich und seiner Braut beim Abschied vergewisserte: »Wir sind aber nun wirklich verlobt.« Aber es war ernst, wie bei Armgard und Woldemar in seinem 50 Jahre später geschriebenen Stechlin-Roman, auch wenn der Geburtstag seines Onkels August Fontane nicht als günstigstes Vorzeichen gelten konnte. Außer Talent und großen Hoffnungen brachte Emilies Bräutigam kein Kapital ein, auf das sich eine gemeinsame Zukunft aufbauen ließ. Und ihre Mitgift wird auch nicht viel anders ausgesehen haben. Fünf Jahre dauerte der Zustand der Ungewissheit an, in denen sich die beiden Verlobten, die meistens getrennt voneinander lebten, sicher zahllose Briefe schrieben. Ein schwerwiegendes Konvolut, wenn man bedenkt, was es alles zu bereden galt – und zu beschweigen. Die Peinlichkeit unehelicher Vaterschaft beispielsweise, wegen der Fontane seinen Freund Bernhard von Lepel am 1. März 1849 mit einem Brief voller genialischer Zoten anpumpte, die Fontane seiner Braut gegenüber aber vermutlich weder mündlich noch schriftlich mit einer einzigen Silbe erwähnte. Der zuletzt Lebende sollte die Brautbriefe mit ins Grab nehmen. Eine romantische Vorstellung! Leider ließ sich Emilie Fontane von ihren Kindern überzeugen, dass es besser sei, dieses Briefkonvolut zu verbrennen. Auch die Zweifel und Qualen der Verlobungszeit, die Heimatlosigkeit Emilies, ihre Ängste und Sorgen werden sicher eine Rolle gespielt haben. Endlich, als Fontane eine Aussicht auf ein geregeltes Einkommen hatte, schickte er seiner Verlobten vermutlich Ende Juli 1850 aus Altona folgendes Telegramm: »Schleswig-Holstein aufgegeben. Wenn dir’s paßt, im Oktober Hochzeit.« Auch dieses Schriftstück ist nicht überliefert. Fontane zitiert es in seinem Erinnerungsbuch Von Zwanzig bis Dreißig im Kapitel Im Hafen, der, wie er sofort einschränkend hinzufügte, nur ein »Nothafen« war (GBA, S. 431, der Brief S. 434). Es wurde ernst. Im September, vier Wochen vor der Hochzeit, wurde das Aufgebot bestellt.
Aufgebot – Berlin, September 1850
# J. P. 61. | Hr. Heinrich Theodor Fontane, Louisenstr. No. 12. | Hr. Louis Henry Fontane Apotheker zu Letschin. | 31 Jahr | Nein | Jgf. Georgine Emilie Caroline Kummer. | Des Comissions Rathes Herrn Carl Wilhelm Kummer, Adoptiv-Tochter. | 26 Jahr. | Nein | Französ: Gemeinde. |
Für beide lautete die Antwort auf die Frage, ob sie schon verheiratet gewesen: »Nein«. Die Spalten, die für die Angabe von Eltern bzw. Vormündern vorgesehen waren, die ggf. ihre Einwilligung zur Eheschließung geben mussten, blieben leer. Beide Ehepartner waren volljährig.
Trauung – Berlin, 16. Oktober 1850
Fontane 30.˅ et Rouanet= 25.˅ Kummer F. | Le seize d’octobre 1850. mrs: le Past: Fournier a béni dans le temple de Berlin le mariage de Henri Theodore Fontane, tlittérateur nat: de Neu-Ruppin; fils de Louis Henri Fontane et de Emilie Labry; avec Georgine Emilie Caroline Rouanet=Kummer nat: de Dresde; fille adoptive de Charles Guillaume Kummer et de Marie Dorothée Schulz. Louisenstrasse No 12. Zimmerstrasse No. 2. |
Am 16. Oktober segnete Herr Pastor Fournier in der Kirche zu Berlin die Hochzeit von Heinrich Theodor Fontane, Schriftsteller, geboren zu Neuruppin, Sohn des Louis Henri Fontane und der Emilie Labry; mit Georgine Emilie Caroline Rouanet-Kummer, geboren zu Dresden, Adoptivtochter von Karl Wilhelm Kummer und Marie Dorothée Schulz. |
Emilie und Theodor Fontane heirateten am 16. Oktober 1850 in der Französischen Kirche in der Berliner Klosterstraße 43. Auguste Fournier traute das junge Paar. »Der 16. Oktober […] sei zwar ein Schlachttag, aber doch mit schließlichem Sieg […]« frotzelte Fontane mit Hinblick auf die historische Völkerschlacht bei Leipzig (GBA, S. 435). Zwei Tage vor der Hochzeit schrieb der Bräutigam an Bernhard von Lepel: »Empfange meinen letzten Junggesellen-Brief. Es ist eine Art Todesurtheil, das man sich schreibt, ohne es zu wissen« (FLBW, S. 220). Die »Hauptsache« dieses Schreibens bestand darin, den Freund auf ein paar notwendige Sprachregelungen einzuschwören:
»Du kennst die romanhafte Lebensgeschichte meiner Braut. Du wirst morgen ihre 3 Geschwister kennen lernen
den Stabsarzt Dr Müller, –
eine Frau v. Below u.
eine Frau Dr Fels.
Ich muß Dich nun bitten genannte Drei immer nur als Cousins und Cousinen meiner Braut zu betrachten, da sie vor der Welt als solche gelten. – Eine junge und recht hübsche Dame aus Liegnitz (ein Frl. Mattersdorff) die morgen als Intima meiner Braut auch zugegen ist, würde sonst die Kunde von neuen Verwandtschaftsbeziehungen mit nach Liegnitz (wo die Mutter meiner Braut, Tante genannt, lebt) nehmen und der Chronique scandaleuse unerschöpflichen Stoff geben.« (Ebd.) Der Polterabend wurde groß im Kreis der Tunnelfreunde gefeiert. Auch viele Familienmitglieder waren angereist, darunter »Cousins« und »Cousinen« der Braut. Ob auch die »Tante« aus Liegnitz zur Feier gekommen war, ist nicht bekannt. Emilie bekam durch die Eheschließung noch eine Schwieger-Mutter und einen Schwieger-Vater dazu, Schwäger und Schwägerinnen, Onkel und Tanten.
»Lebensnovelle« (1858)
Im Herbst 1858, während sie mit ihrem Mann in London lebte, begann Emilie Fontane, ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Diese Aufzeichnungen wurden in der Familien-Korrespondenz mit den Merckels als »Jugendnovelle« (21. Oktober 1858, FMBW S. 144), »Lebensnovelle« (11. November 1858, FMBW S. 165) oder einfach »Novelle« (2. Januar 1859, FMBW S. 179) bezeichnet. Friedrich Fontane überschrieb die berührenden Bekenntnisse seiner Mutter später mit »Selbstbiogr[aphie]. von Th. F.‘s Frau Emilie«. Sie selbst hatte dem Text keine Überschrift gegeben. Am 10. Dezember 1858 las Emilie ihrem Mann aus dem Manuskript vor, zu seinem »größten Ergötzen«, wie dieser den Berliner Freunden brieflich mitteilte. Die kleinen »stilistischen Unarten« werde er bewusst nicht korrigieren, »um nicht der Sache den naiven Ton zu nehmen, worin ihr größter Reiz besteht«. Es handelt sich um das wichtigste Lebens-Dokument von Emilie Fontane. Viele Details ihrer Biographie sind nur durch diesen Text bekannt, der mit dem Jahr 1839 abbricht, auch wenn darunter steht »Fortsetzung folgt«. Am 2. Januar 1859 schickte Fontane das Manuskript an die Merckels. Es befindet sich heute in der Berliner Staatsbibliothek und wurde erstmals 1984 von Hermann Kunisch aus dem Nachlass von Julius Petersen veröffentlicht. Vollständig abgedruckt wurde der Text erneut im Anhang der von Gotthard Erler verfassten Biographie über Emilie Fontane. Die erste Seite sieht so aus:
[Friedrich Fontane] ist getippt! Selbstbiogr. von Th. F.’s Frau Emilie
Im Jahre 1827 fanden die Leser der Vossischen Zeitung unter den "Vermischte[n] Anzeigen" folgende: "Sollte ein kinderloses Ehepaar geneigt sein, ein dreijähriges, gesundes, wohlgebildetes Kind (Mädchen) an Kindesstatt anzunehmen, so würde dasselbe, unter Zusicherung einer namhaften Summe unter S. 42 zu erfragen sein." Die nahmhafte Summe zog wahrscheinlich mehr wie das kleine Mädchen und unter S. 42 liefen zahlreiche Briefe ein, die ein kleiner, gutmüthig aussehender Mann in Empfang nahm, und sich dadurch als den Einsender der Annonce documentirte. Aber nicht ihn betraf diese Angelegenheit direct; er war nur der Vermittler. Die Kleine war die "unglückliche Geschichte" einer kleinen Stadt, aus der er gebürtig war, und der Mutter derselben, als Spiel- und Jugendgefährte bekannt, hatte er das Geheimniß seiner Schulfreundin, zugleich mit der Bitte: um Vormundschaft bei dem kleinen Wesen, empfangen. Zu Hause angekommen, öffnete er nacheinander die zahlreichen Zuschriften und wollte sich schon für die eine oder andere entscheiden, die bekannte Namen wohlhabender Leute der Stadt verriethen, als eine Annonce durch die Herzlichkeit, mit der der Schreiber den Wunsch aussprach, ein Töchterchen zu besitzen, ihn bestach. Er theilte dieselbe der Mutter des Kindes mit und begab sich mit ihrer Einwilligung zu dem Einsender. Er fand einen Mann in den vierziger Jahren, dem höheren Mittelstande an gehörig, | halb Künstler, halb Handwerker, mit einer liebenswürdigen, aber kränklichen Frau. [...]
Die Bezeichnung »Novelle« weist darauf hin, dass eine literarische Behandlung der Erinnerungen beabsichtigt war, die hinsichtlich der Wahrheit andere Lizenzen hat als die Historiographie. Was stimmt, was ist Fiktion? Alles, was nicht durch andere Dokumente bewiesen ist, kann mit einiger Berechtigung angezweifelt werden, besonders die Annonce und die Adoption. Umso größer dürfte die Authentizität von Emilies Erinnerungen an das Lebensgefühl ihrer Jugendjahre sein.
Gemeinsames Testament – Berlin 1892
Unser letzter Wille!
1. Ich, Theodor Fontane, setze für den Fall meines Todes zu meinen Erben ein:
a. meine Ehefrau, Emilie geb. Kummer,
b. meine Tochter, Martha Fontane,
c. meinen Sohn, Theodor Fontane,
d. meinen Sohn, Friedrich Fontane,
2. Ich, Emilie Fontane, setze für den Fall meines Todes zu meinen Erben ein:
a. meinen Ehemann Theodor Fontane,
b. meine Tochter, Martha Fontane,
c. meinen Sohn, Theodor Fontane,
d. meinen Sohn, Friedrich Fontane.
3. Von unserem gemeinsamen Vermögen soll der Ueberlebende von uns beiden, so lange er lebt, die freie und unbeschränkte Verfügung unter Lebenden, sowie den unbeschränkten Nießbrauch und die Verwaltung bis zu seinem Tode haben, auch nicht verpflichtet sein, über die Verwaltung des Vermögens Rechnung zu legen oder sonst Rechenschaft zu geben. […]
Die bemerkenswerte Lücke, die Theodor Fontane für seine Frau ausgefüllt hat, ist ein Hinweis darauf, dass die Identität dieser Frau bis in ihr Alter unsicher war. Emilie war damals 67 Jahre alt. Dass Fontane diese sensible Angabe für seine Frau eintrug, lässt sich erklären. Aber stimmt das überhaupt? War ihr Geburtsname wirklich Kummer? Sie wurde doch erst später von Karl Wilhelm Kummer adoptiert. Ihre Mutter Thérèse Müller (1790–1867), Witwe des verstorbenen Predigers Johann Heinrich Müller (1774–1817) aus Müllrose, war die Tochter von Jean Pierre Barthélemy Rouanet (1747–1837), der als Kämmerer in Beeskow ein hohes Ansehen genoss. Wäre nicht eigentlich Müller richtig gewesen, oder Rouanet? Und wenn „geb. Kummer“ die juristisch korrekte Angabe war, wieso hat Paul Meyer dann den Geburtsnamen nicht eingetragen? Wusste er es nicht, hatte er Zweifel?
»Ihr eigentlicher Name …«
In seiner wenige Jahre später geschriebenen Autobiographie Von Zwanzig bis Dreißig erklärte Fontane über seine Frau:
»Ihr eigentlicher Name aber, den sie erst, früh verwaist, bei Gelegenheit ihrer im vierten oder fünften Jahre erfolgten Adoption abgelegt hatte, war Rouanet.« (GBA, S. 351)
Dabei lebte Emilies Mutter Therese Müller, geb. Rouanet, bis 1867, ihr Vater Georg Bosse bis 1865. Von früh verwaist kann also keine Rede sein. Sie war bereits über 40 Jahre alt, als ihre leiblichen Eltern starben. Der Satz in Fontanes Autobiographie ist leicht als eine für die Öffentlichkeit bestimmte Legende zu erkennen. Mitte der 1890er Jahre, als er seine Autobiographie schrieb, wird er schließlich nicht vergessen haben, was sie beide 1892 im gemeinsamen Testament unterschrieben hatten: »geb. Kummer«. Es ist anzunehmen, dass Emilie diese Passage nicht einfach kommentarlos abschrieb, sondern ein Wörtchen mitsprach. Die Frage nach ihrem Geburtsnamen berührt ihre Identität, die bis ins hohe Lebensalter unsicher blieb und sie selbst und alle Familienangehörigen verunsicherte.
Ein Blick ins Manuskript Fontanes zeigt, wie schwierig es war, diese Aussage zu formulieren.
»Sie war die Adoptivtochter eines noch weiterhin zu charakterisirenden älteren Herrn aus dem Sächsichen, der im ganzen Hause der »Herr Rath Kummer« genannt wurde. Nach ihm hieß sie denn auch Emilie Kummer. Ihr eigentlicher Name aber, den sie erst nach der Adoption ablegte, war Rouanet.« So lautete der ursprüngliche Entwurf. Eingeschoben war, dass die Adoption durch »Familienverhältnisse« herbeigeführt wurde. Die naheliegende und verständliche Erklärung, welcher Art diese Verhältnisse waren, wurde erst in einer späteren Bearbeitung ergänzt: Emilie war »früh verwaist«. Leider fehlt in diesem Fall die Abschrift Emilies, an der sich vielleicht auch dieser Schritt der Textentwicklung ablesen ließe.
Sterbeurkunde – 18. Februar 1902
Nr. 179
Berlin am 18 Februar 1902.
Vor dem unterzeichneten Standesbeamten erschien heute,
der Persönlichkeit nach durch Fahrkarte anerkannt,
Friedrich Fontane, Verlagsbuchhändler,
wohnhaft in Berlin, Elßholzstraße 17,
und zeigte an, daß Emilie Fontane geborene Kummer,
77 Jahre alt, französisch-reformierter Religion,
wohnhaft in Berlin, Elßholzstraße 17, geboren zu Dresden,
Wittwe des Schriftstellers Theodor Fontane,
über deren Eltern nichts bekannt ist,
zu Berlin in ihrer Wohnung am achtzehnten Februar des Jahres tausend neunhundert und zwei Vormittags um acht drei viertel Uhr verstorben sei.
Vorgelesen, genehmigt und unterschrieben Friedrich Fontane
Der Standesbeamte.
In Vertretung
Schneider
Die Übereinstimmung mit dem Hauptregister beglaubigt
Berlin am 18ten Februar 1902.
Der Standesbeamte.
In Vertretung. Schneider.
Nach dem Tod ihres Mannes gab Emilie die gemeinsame Wohnung in der Potsdamer Straße 134 c. auf, in der die Familie so lange gewohnt hatte und in der Fontanes literarisches Spätwerk entstanden war. Sie zog zu ihrem Sohn Friedrich in die Elßholzstraße 17. Ihre letzten Lebensmonate verbrachte sie damit, den Nachlass Fontanes zu sichten, besonders die zahlreichen Briefe. Als Friedrich Fontane den Tod seiner Mutter am 18. Februar 1902 auf dem Standesamt meldete, gab er als Geburtsnamen Kummer an. Über ihre Eltern machte er keine Angaben. Darüber sei ihm nichts bekannt.
Beerdigt wurde Emilie Fontane am 21. Februar 1902 in der Familiengrabstätte auf dem Friedhof an der Liesenstraße. Im Kirchenbuch der Französischen Gemeinde wurde folgender Eintrag festgehalten:
Eodem [am 18. Februar 1902] Vorm. 8 Uhr 40 Min. starb an Lungenkatarrh
u. Lungenentzündung:
Georgine Emilie Caroline Fontane, geb. Rouanet-Kummer,
Wittwe des Henri Theodore Fontane, Schriftsteller, Dr. jur.
geb. am 14. November 1824 zu Dresden Fontane
Adoptivtochter des Carl Wilhelm Kummer u. d. Marie p.
Dorothee geb. Schultz.
Begraben am 21. Februar 1902 auf dem Kirch=
hof i. d. Liesenstraße
Elsholzstraße 17.
Auf dem Grabstein standen ihre Lebensdaten und ihr Name: Emilie Fontane, geb. Rouanet-Kummer. Emilie selbst unterschrieb in ihren letzten Lebensjahren mit Emilie Fontane, Frau Theodor Fontane oder einfach Frau Fontane.
Dank
Den bestandshaltenden Archiven und Bibliotheken sei für ihre Unterstützung gedankt. Ein besonders herzlicher Dank gilt Jochen Fontane, ohne den dieser Beitrag nicht hätte entstehen können. Er hat nicht nur die Anekdote über die unerwartete Begegnung im Lesesaal beigesteuert, sondern die Recherchen allseits durch sein genealogisches Wissen, das er seit Jahrzehnten zusammengetragen hat, unterstützt.
Weitere Archivalien
Berlin, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz IV. HA Rep. 1 Geheime Kriegskanzlei, Nr. 71 (Bor-Byl), Georg Bosse
Literatur
Georg Friedrich Bosse: De Cancro Faciei. Dissertatio Inauguralis Medico-Chirurgica quam consensu Gratiosi Ordinis medici in Universitate Ludoviciana pro summis in Medicina et Chirurgia Honoribus rite obtinendis publico examini eruditorum subiicit Georgius Fridericus Bosse Eilenstadiensis. Giessae 1826 (München BSB: Diss 822/2).
Friedrich Fontane: Die letzten Lebensjahre meiner Mutter. In: Hermann Fricke: Emilie Fontane. Mit unveröffentlichten Gedichten u. Briefen von Theodor u. Emilie Fontane. Veröffentlichung aus dem Theodor-Fontane-Archiv der Brandenburgischen Provinzialverwaltung. Rathenow 1937, S. 102-105. Erneut abgedruckt in: »Erschrecken Sie nicht, ich bin es selbst«. Erinnerungen an Theodor Fontane. Hrsg. von Wolfgang Rasch und Christine Hehle. Berlin: Aufbau Verlag 2003, S. 289-293.
Hermann Kunisch: Julius Petersens Fontane-Nachlaß. Bericht und Edition. In: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz. Bd. 20, 1984, S. 267-325.
FMBW - Die Fontanes und die Merckels. Ein Familienbriefwechsel. 1850-1870. Hrsg. von Gotthard Erler. Berlin: Aufbau Verlag 1987.
Gotthard Erler: Das Herz bleibt immer jung. Emilie Fontane. Biographie. Berlin: Aufbau Verlag 2002.
Klaus H. M. Ebert: Emilie Fontane. Eine unerwartete Verwandtschaft. In: Fontane-Blätter, Potsdam, Heft 74, 2002, S. 141-142.
FLBW - Theodor Fontane und Bernhard von Lepel. Der Briefwechsel. Kritische Ausgabe. Hrsg. von Gabriele Radecke. Berlin, New York: de Gruyter 2006(Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft. Bd. 5/1-2.).
GBA - Theodor Fontane. Von Zwanzig bis Dreissig. Autobiographisches. Hrsg. von der Theodor Fontane-Arbeitsstelle, Univ. Göttingen. Bandbearbeiter: Wolfgang Rasch. Mit e. Frontispiz u. 4 Faks. Berlin: Aufbau Verlag 2014 (Große Brandenburger Ausgabe. [Abteilung 6:] Das autobiographische Werk. [Bd.] 3., erweiterter Anhang.
Empfohlene Zitierweise: Klaus-Peter Möller: »Emilie Fontane – Lebensdokumente. Spuren einer komplizierten Identität«, Blogserie »Objekt des Monats«, hg. v. Theodor-Fontane-Archiv, 30.4.2024. URL: https://www.fontanearchiv.de/blogbeitrag/2024/04/30/emilie-fontane