»Der Stechlin« vernetzt.

Bericht über eine aufwendige Spielerei

Für eine Seminararbeit an der JMU Würzburg annotierte Agnes Hilger sämtliche Gespräche zwischen Figuren in Theodor Fontanes Der Stechlin, um daraus Figurennetzwerke zu erzeugen. In diesem Blogpost berichtet sie über ihre Ideen, Ergebnisse und Probleme. Die den Netzwerken zugrundeliegenden Daten sowie das für die Visualisierungen verwendete Python-Skript und die Netzwerke als html-Dateien finden sich in einem Github Repository. Dieser Blogpost ist zuerst am  26.05.2021 bei hypotheses.org erschienen. Wir danken der Autorin, dass er hier erneut veröffentlicht werden darf.

Im Jahr 2011 erregte der Literaturwissenschaftler Franco Moretti mit einem seiner ‘Pamphlets’ Aufsehen. Dort wandte er sich der Netzwerkanalyse literarischer Texte zu und definierte den:die Protagonist:in eines literarischen Texts im Anschluss an eine Arbeit zu den Marvel-Serien als „center of the network“ (Moretti 2011, S. 4). Vorgeworfen wurde ihm einerseits, sich nicht mit Konzepten und Grundlagen der Netzwerkanalyse auseinanderzusetzen, und andererseits die Reduktion der eigentlich reicheren Begriffe einer traditionellen Literaturwissenschaft (vgl. insb. Trilcke 2013, S. 204-205).

Auch ich war, seit ich in der Einführungsvorlesung in die Digital Humanities das erste Mal ein Drama als Netzwerk sah, hin- und hergerissen zwischen Begeisterung („Wow, das sieht toll aus!“) und Zweifel („Was bringt mir das?“).

Als ich dann im Wintersemester 2020/21 ein Seminar zur Netzwerkanalyse in Bezug auf Dramen bei PD Dr. Katrin Dennerlein besuchte, beschloss ich, mich nicht direkt in die Analyse großer Dramencorpora und ihrer Figuren zu stürzen, sondern zunächst die Methode genauer, qualitativer kennen zu lernen. Und zwar mithilfe eines Textes, den ich gut kenne und bei dem sich die Forschung über die Frage nach der Hauptfigur nicht so ganz einig zu sein scheintx: Fontanes Der Stechlin.

Der Nachteil, wenn man einen Roman statt eines Dramas in ein auf Sprechakten zwischen Figuren basierendes Figurennetzwerk verwandeln möchte, ist offensichtlichx: In narrativen Texten gibt es keinen Nebentext, der mir ganz offenkundig sagt, wer wann spricht. Die Daten lassen sich also nicht so leicht automatisch extrahieren. Dazu kommt, dass narrative Texte im Allgemeinen weniger Gesprächsanteil haben. Zwar gilt der Stechlin der Forschung als ‘Gesprächsroman’ (vgl. u.a. Hasubek 1998, S. 283). 60 Prozent der Wörter entfallen auf Sprechakte.x – Damit entfallen aber immer noch 40 Prozent auf Erzählerrede. Zudem bleibt das Problem: Woher bekomme ich meine Daten? 

Zwar wurde und wird an Möglichkeiten gearbeitet, auch erzählende Texte derart zu annotieren, dass sich daraus Figurennetzwerke etwa auf Basis gemeinsamen Vorkommens in einem Absatz, extrahieren lassen (vgl. u.a. Krug 2020). Doch sind diese Verfahren noch fehlerbehaftet. Während das für Analysen, die größere Textmengen im Blick haben, vernachlässigbar sein mag (vgl. Jannidis 2017), eignen sie sich für eine Analyse des Einzeltextes, wie ich sie vorhatte, nicht. Nachdem ich ohnehin den Roman ein weiteres Mal lesen wollte, annotierte ich die relevanten Daten selbst mithilfe des Online-Tools CATMA. Dafür erfasste ich für alle Sprechakte, von wem und zu wem gesprochen wurde, sowie die Figuren oder historischen Persönlichkeiten, über die gesprochen wurde.x Anschließend visualisierte ich das mithilfe der Python-Pakete networkx und pyvis als Netzwerke.

Einen Schritt zurück: Das Problem Hauptfigur/Protagonist:in

Das oben bereits angeschnittene Problem mit Morettis Protagonistendefinition ist für das Schnittfeld von ‘traditioneller’ und digitaler Literaturwissenschaft nicht ungewöhnlich. Wie Peer Trilcke beschreibt, verwendet Moretti hier einen reicheren Begriff der konventionellen Literaturwissenschaft und reduziert ihn auf ein bestimmtes Merkmal: das besonders-gut-vernetzt-Sein (vgl. Trilcke 2013, S. 204).x

In der Literaturwissenschaft wird die Differenz Hauptfigur-Nebenfigur in der Regel an der Beteiligung an der Handlung festgemacht. Kindt und Köppe sprechen von “Hauptfiguren, die die Handlung in entscheidender Weise beeinflussen, und Nebenfiguren, die dies nicht tun“ (Kindt/Köppe 2014, S. 137). Jannidis vermeidet die kausale Komponente an dieser Definition und definiert eine Hauptfigur als Figur, die an bedeutend mehr Ereignissen partizipiert als die anderen Figuren (vgl. Jannidis 2004, S. 104). Jannidis weist zudem darauf hin, dass sich in vielen Texten die Hauptfigur nicht so leicht bestimmen lässt (vgl. ebd.).

So ist das auch im Stechlin. Wirft man einen Blick auf die Diskussion um die Hauptfigur des Romans, so wird schnell klar, dass es bei der Frage vor allem darauf ankommt, auf welchen Aspekt man besonderen Wert legt. Wenn Eda Sagarra schreibt, Fontane mache einen Landpfarrer zu einer von drei Hauptfiguren seines Romans (vgl. Sagarra 1986, S. 29), so betont sie wohl vor allem den Aspekt der Beeinflussung und der Wichtigkeit der Figur für die Normen des Textes. Denn man kann nicht gerade behaupten, dass Lorenzen an bedeutend mehr Ereignissen partizipiert als etwa Woldemar.

Auch mein Versuch, ausgehend von Figurennetzwerken und der Zentralität von Figuren etwas über deren Wichtigkeit zu sagen, ist eine Form der Perspektivierung und ich muss mir dieser Perspektive bewusst sein. Das Netzwerk-Modell abstrahiert ja von der Handlung als zeitliche Abfolge von Ereignissen und zeigt lediglich die auf den gesamten Text bezogene Struktur der Figurenbeziehungen.

Natürlich lassen sich durchaus Argumente für eine derartige Perspektivierung finden. So ist eine Figur, die an einem Großteil der Ereignisse partizipiert, vermutlich auch gut vernetzt. Und auch eine Figur, die gut vernetzt ist, ohne gleichzeitig an vielen Ereignissen zu partizipieren, wird für die Handlung eine gewisse Rolle spielen und lohnt daher einen Blick der Interpretin.

Um die Zentralität eines Knotens in einem Graphen zu bestimmen gibt es nun aber mehr Möglichkeiten als die von Moretti verwendete. Peer Trilcke bespricht drei der am häufigsten verwendeten Zentralitätsmaße, Degree, Closeness und Betweenness Centrality (vgl. Trilcke 2013, S. 216-217), die auch hier (unter den Kürzeln DC, CC und BC) verwendet werden und mithilfe des Python-Pakets networkx berechnet werden. (Zur Berechnung der Maße in networkx siehe hier.)

Wer spricht mit wem? Wer spricht über wen? Intuitive Beschreibungen der Netzwerke

Grundsätzlich lassen sich auf Basis der annotierten Daten zwei verschiedene Typen von Netzwerken erzeugen. Der erste Netzwerktyp erfasst Sprechakte von einer Figur zu einer anderen Figur als Kante zwischen diesen. Der zweite Netzwerktyp erfasst Äußerungen einer Figur über eine andere Figur als Kanten.

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Abbildung 1: Netzwerktyp 1, Netzwerk mit Figuren als Knoten und Sprechakten von Figuren gegenüber anderen Figuren als gerichtete Kanten.

Abbildung 1x zeigt einen gerichteten Graphen, in dem die Figuren des Romans die Knoten bilden, die Kanten Sprechakte zwischen diesen. Das Netzwerk zerfällt in mehrere Teilnetze. Eines von diesen ergibt sich aus dem Gespräch der Vermieterin der Barbys, Frau Schickedanz mit ihrem zur Handlungszeit bereits verstorbenen Ehemann im 12. Kapitel. Ein weiteres Teilnetzwerk ergibt sich aus dem Gespräch unter Woldemars Militärkameraden über dessen Mission nach England im 21. Kapitel. Das dritte Teilnetz bildet das eigentliche Hauptnetzwerk, an dem der Großteil der Figuren partizipiert und das im Grunde auch wiederum aus zwei Teilen besteht, die nur über einen einzigen Knoten verbunden werden. Das äußere ‘Nebennetzwerk’ entsteht aus den Gesprächen der Angestellten der Familie Barby mit dem Kutscher der Berchtesgadens.x

Abbildung 2, 3 und 4 visualisieren das Sprechen über Figuren als Netzwerk, wobei Abbildung 2 alle referierten Figuren – also vor allem auch viele Persönlichkeiten der zeitgenössischen Gesellschaft und preußischen Geschichte als Knoten hat. Abbildung 3 zeigt als Knoten alle an der Handlung beteiligten Figuren und das Sprechen über diese.x Auch dieses Netzwerk zerfällt in Teilnetze und zwar deshalb, weil natürlich nicht über alle Figuren gesprochen wird. (Das Netzwerk ohne die unverbundenen Figuren findet sich in Abbildung 4.) Dafür scheint das Netzwerk in Abbildung 3 insgesamt dichter zu sein als das in Abbildung 1. Das gilt nicht nur für den Kernbereich, sondern auch für das in dieser Abbildung links stehende Cluster der Dienstboten der Familie Barby.

Insgesamt lassen sich in allen Netzwerken, was bei der Knotenmenge kaum verwundert, oberflächlich nur grob Regionen unterscheiden. Im Netzwerktyp 1 lässt sich aber ganz gut eine Trennlinie zwischen Land und Stadt erkennen. Deutlicher wird das, wenn man die Knoten entsprechend einfärbt, wie in Abbildung 5.x

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Abbildung 5: Netzwerktyp 1, wie Abbildung 1, aber als ungerichtetes Netzwerk mit Einfärbung nach Wohnort. Blau: Berlin; Rot: Stechlin; Gelb: Kloster Wutz; Orange: andere Orte in der Mark; Grau: Sonstiges.
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Abbildung 6: Netzwerktyp 1, wie Abbildung 1, aber als ungerichtetes Netzwerk mit Einfärbungen der Knoten nach Adel (orange) oder Nicht-Adel (blau).

Gruppierungen nach anderen Kategorien, etwa nach Adel und Nicht-Adel oder nach Geschlecht zeigen dagegen keine so deutlichen Unterschiede. In Abbildung 6, die die Knoten nach Adel bzw. Nicht-Adel der Figuren färbt, zeigen sich lediglich kleinere Gruppierungen an den Rändern. So sind der separierte Teil, der die Unterhaltung von Woldemars Regimentskameraden abbildet, und das fast separierte Netzwerk der Unterhaltungen der Barbyschen Portiers- und Kutscherfamilien jeweils vollkommen einfarbig. Und auch im Zentrum des Netzwerks kann man, wenn man danach sucht, Gruppen ausmachen: Die adlige Gruppe um die Familie Barby, die adlige Gruppe um die alteingesessenen ostelbischen Junker und die nicht-adlige Gruppe der Einwohner des Ortes Stechlin. Allerdings sind die Trennungen hier nicht so streng: Im Haus der Familie Barby verkehren ja etwa auch der Musiker Wrschowitz und der Malerprofessor Cujacius. Dazu kommen die Verbindungen zu den Hausangestellten, insbesondere von Dubslav zu Engelke, von Graf Barby zu Jeserich sowie von Melusine und Armgard zu Lizzi.

Ein noch disparateres Bild ergibt das Clustering nach Geschlecht in Abbildung 7. Hier veranschaulicht das Netzwerk lediglich, dass im Roman mehr Männer vorkommen – für diese Erkenntnis bräuchte es freilich nicht unbedingt die Visualisierung im Netzwerk.

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Abbildung 7: Netzwerktyp 1, wie Abbildung 1, aber als ungerichtetes Netzwerk mit Einfärbung der Knoten nach Gender: Rot: weiblich; Gelb: männlich.

Diese ersten Beobachtungen sind nun weiter nichts als Annäherungen. Weder überraschen sie, noch haben sie einen unmittelbaren heuristischen Wert. Sie zeigen aber doch, dass das Netzwerk bestimmte Strukturen des Romans wie die Zweiteilung des Handlungsschauplatzes nach Mark Brandenburg und Großstadt sichtbar machen kann. Und dass gerade diese Zweiteilung sichtbar wird, ist nachvollziehbar. Während es bei einem unterschiedlichen Wohnort nur im Ausnahmefall gegenseitiger Besuche die Möglichkeit zum Gespräch gibt, gehören Sprechakte über Standesgrenzen hinweg, gerade zwischen Adligen und Hausangestellten zum Alltag der Figuren.

Hauptakteur im Netzwerk, Hauptfigur im Roman?

Intuitiv erkennt man, dass Dubslav im ersten Netzwerktyp recht zentral liegt. Beim Netzwerktyp 2 in Abbildung 2, 3 und 4 ist eine zentrale Stellung nicht so deutlich erkennbar. 

Bei den Zentralitätsberechnungen aber hat der Dubslav-Knoten für beide Netzwerktypen und für alle drei Maße die höchsten Werte. Die Abbildungen 8, 9 und 10, sowie 11, 12, und 13 bieten jeweils eine Übersicht über diese Werte für die beiden Netzwerktypen. Das Ergebnis, dass Dubslav die zentralste Figur im Stechlin-Netzwerk ist, mag nun etwas trivial erscheinen. Und sicherlich wird es interessanter wenn man einen Blick auf die zweiten und dritten Plätze wirft. 

Melusine liegt bei allen drei Zentralitätsmaßen für den ersten Netzwerktyp auf Platz zwei. Beim zweiten Netzwerktyp liegt sie bei der Degree Centrality auf Platz zwei, bei den beiden anderen Maßen jedoch Woldemar. Dieser liegt wiederum bei Degree und Closeness Centrality für den ersten Netzwerktyp auf Platz drei, bei der Betweenness Centrality auf Platz 5. 

Dieser letzte Wert ist nicht weiter verwundernswert, wenn man sich Platz drei und vier anschaut: Hedwig und Frau Imme. Vermutlich würde niemand auf die Idee kommen, die beiden als Hauptfiguren einzustufen. Die Betweenness Centrality eines Knotens ist dann besonders hoch, wenn der Knoten für den Zusammenhalt des Netzwerks wichtig ist, bzw. wenn er mehrere Netzwerke verbindet. Und genau das tut Hedwig und zum Teil auch Frau Imme. Wirft man noch einmal einen Blick in Abbildung 1, so sieht man, dass über Hedwig die einzige Verbindung vom Mittelteil des Netzwerks zu Frau Imme und dann weiter zu Robinson, Imme, Rudolf, und den Hartwigs läuft.

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Abbildung 14: Netzwerktyp 1 (wie Abbildung 1) mit stufenweiser Gewichtung der Kanten. Ein Netzwerk, bei dem die Kantendicke der Anzahl der Sprechakte entspricht wäre unleserlich.

Gewichtet man das Netzwerk zusätzlich nach der Anzahl der Sprechakte und visualisiert diese Gewichtung in einer stufenweisen Erhöhung der Kantendicke (Abbildung 14), so zeigt sich, dass zwar die Verbindung zwischen Frau Imme und Hedwig recht dick ist – weil Frau Imme so gern von Hedwigs Erfahrungen bei verschiedenen Dienstherren hört. Die eigentlich wichtige Verbindung, die Hedwig mit Melusine und damit mit fast allen anderen Figuren verknüpft, ist jedoch recht dünn. Lediglich einmal sprechen Melusine und Hedwig – als Melusine fragt, ob Hedwig nicht als Dienstmädchens bei den jungen Stechlins, bei Woldemar und Armgard anfangen möchte. Dass Woldemar bei der Betweenness Centrality etwas zurückliegt, ist also mehr als nachvollziehbar, allerdings stellt sich an dieser Stelle die Frage, wie belastbar dieses Zentralitätsmaß überhaupt für die hier verfolgte Fragestellung ist. Denn auch auf den nächsten Plätzen tauchen Figuren auf, die man als Leserin des Romans als Nebenfiguren einstufen würde, vor allem einige aus dem Kreis der märkischen Adeligen.

Was Lorenzen angeht, so liegt er bei allen Werten für den ersten Netzwerktyp deutlich weiter hinten, bei der Degree Centrality auf Platz 12, bei der Closeness Centrality auf Platz 9 und bei der Betweenness Centrality gar auf Platz 30. Beim zweiten Typ besetzt er bei DC Platz 7, bei CC Platz 9 und bei BC auf Platz 15.

Würde man rein quantitativ argumentieren, so legen die Ergebnisse nahe, lediglich Dubslav als Hauptfigur zu betrachten, nicht nur, weil er bei allem die höchsten Werte hat, sondern vor allem wegen des Abstands zu den nächsthöheren Werten. Für den ersten Typ: Dubslav hat eine DC von 0,82x, Melusine von 0,49, Woldemar von 0,43. Und auch bei der CC, bei der alle Werte recht nah beieinander liegen, erkennt man den ‘Vorsprung’ Dubslavs mit einer Zentralität von 0,43, während die nächsten 16 Werte alle zwischen 0,3 und 0,38 liegen. 

Eine weitere Möglichkeit wäre nun, Dubslav, Melusine und Woldemar als Hauptfiguren anzusetzen. Melusine liegt dabei zwar stets vor Woldemar, bei DC und CC jedoch mit geringem Abstand.x Allerdings wird die Argumentation für die ‘3-Hauptfiguren-Lösung’ insgesamt schon dürftiger. Die drei Figuren besetzen (fast) immer die ersten drei Plätze, doch der Abstand von Woldemar zur jeweils nächsten Figur ist schon deutlich geringer als der zwischen Dubslav und Melusine. 

Was Lorenzen angeht, so legt nichts an den Ergebnissen nahe, ihn zu den Hauptfiguren zu rechnen – und damit ist es an der Zeit, die gewählten Analysekriterien zu hinterfragen. Denn dass Lorenzen quantitativ nicht so sehr ins Gewicht fällt, liegt daran, dass er nicht so viel spricht und bedeutet keineswegs, dass er nicht qualitativ gesehen wichtig sein kann. Lorenzen hat zu allen drei nun genannten ‘Hauptfiguren’ ein besonderes Verhältnis. Für Dubslav ist er mitunter Korrektur-Instanz, für Woldemar war er Erzieher und ist er Mentor und mit Melusine führt er im 29. Kapitel den ‘revolutionären Diskurs’, der die zentralen Ideen und Motive des Romans in nuce enthält.

Letztlich ergibt sich nun also ein methodisches Problem: Stellt man eine bisherige Lesart des Romans infrage, weil die quantitativen Daten ein anderes Bild zeichnen? Oder lässt man die Ergebnisse links liegen, weil sie die hermeneutisch gewonnenen Erkenntnisse über den Text nicht bestätigen? Ein Zwischenweg scheint mir angebracht.

Zunächst einmal sind die quantitativen Werte dahingehend belastbar, dass sie einige Selbstverständlichkeiten, mit denen manche früheren Interpretator:innen über den Roman gesprochen haben, infrage stellen. Das Modell von Sagarra, drei Hauptfiguren, mit denen Dubslav, Melusine und Lorenzen gemeint sind, erscheint vor dem Hintergrund der hier errechneten Werte fragwürdig. Und mehr noch: Auch qualitativ lässt sich für Lorenzen als Hauptfigur ja vor allem mit dessen Einfluss auf Woldemar argumentieren. Damit soll nun aber auch wieder nicht gemeint sein, dass dieser Blogbeitrag für die ‘Maximallösung’ plädiert und Dubslav, Melusine, Woldemar und Lorenzen als Hauptfiguren propagieren möchte. 

Die Hauptfigurenfrage bleibt letztlich nicht lösbar, und zwar nicht deshalb, weil die Daten dazu nichts hergeben würden. Man wird immer Argumente für das eine oder andere Modell finden und die Antwort bleibt, darauf kann man nicht oft genug hinweisen, eine Frage der Perspektive.

Das wird umso deutlicher, wenn man einen Blick auf Figuren wirft, die bisher noch nicht erwähnt wurden, zum Beispiel Dr. Wrschowitz und Armgard, die bei allen drei Maßen relativ weit vorne liegen. Das ist vor allem überraschend, weil Armgard nicht gerade als große Rednerin auffällt. Dieser Eindruck ist ein wenig täuschend – denn wenn Melusine nicht dabei ist, redet Armgard durchaus. Dazu kommt aber natürlich, dass sie oft Adressatin von Gesprächen ist. Ich plädiere nun auch keineswegs dafür, Armgard oder Dr. Wrschowitz oder Czako, der auch meist vorne dabei ist, als Hauptfiguren auszurufen. Ich möchte nur auf eine der Leistungen des Netzwerks hinweisen, das als abstraktes Modell den Blick vom Text weg – und dann auf Umwegen zum Text zurück lenken kann. So kann es möglicherweise in Zukunft auch als eine Art Radar dienen, welche Figur vielleicht etwas mehr Aufmerksamkeit verdienen könnte.

Statt eines Fazits: Probleme

Sowohl in diesem Blogbeitrag wie in der zugrundeliegenden Seminararbeit war eines von Anfang an eigentlich klar: Die gestellte Frage lässt sich so pauschal nicht lösen, weder mit der hier verwendeten Methode, noch mit einer anderen. Denn wer nun die Hauptfigur(en) im Stechlin ist/sind, kommt immer auf die Akzentuierung bestimmter Aspekte, auf die Perspektive und auf die Methode an.

Das bedeutet nun aber auch nicht, dass die Arbeit, die ich mir gemacht habe, wertlos ist. Vor allem natürlich sollen die dafür annotierten Daten und das verwendete Python-Skript zur Verfügung gestellt werden, sodass andere Studierende damit weiterarbeiten können (siehe hier). Insbesondere gilt das für das umfangreiche Netzwerk in Abbildung 2, das hier kaum berücksichtigt wurde. Und auch für die eine oder andere Leserin des Romans, kann ein Netzwerk vielleicht als Stütze oder Impulsgeber wirken.

Für mich selbst liegt der Wert der Arbeit am Ende natürlich auch darin, ein Gefühl dafür zu bekommen, wie sich gut bekannte Figuren außerhalb der gewohnten Umgebung des Romantexts verhalten, was die verwendeten Zentralitätsmaße aussagen und überhaupt: wo Stärken und Schwächen des Netzwerk-Modells liegen.

Selbst wenn man all das berücksichtigt, ist die gewählte Methode der manuellen Annotation gemessen an den dadurch gewonnenen Ergebnissen aber aufwendig. Interessanter wird es sicherlich am Ende doch beim Eintauchen in größere Textcorpora. Hier versprechen die schon jetzt verfügbaren und in Zukunft wohl noch besser werdenden Möglichkeiten der automatischen Annotation neue Erkenntnisse.

Agnes Hilger studiert an der JMU Würzburg Germanistik, Digital Humanities und Geschichte.

Literatur

Burdorf, Dieter und Jürgen Kühnel: Protagonist, in: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen, hg. v. Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff, 3. Aufl., Stuttgart 2007.

Downing, Eric: Sprachmagie, Stimmung und Geselligkeit. Überschreitungen des Realismus in Fontanes Der Stechlin, in: Peter Uwe Hohendahl u. Ulrike Vedder (Hgg.): Herausforderungen des Realismus. Theodor Fontanes Gesellschaftsromane, Freiburg u. a. 2018, S. 271–295). 

Fries, Ulrich und Hartmut Jaap: „Der Stechlin“. Politikum in unserer Zeit oder Liebesgeschichte aus einem vergangenen Jahrhundert?, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Theodor Fontane, München 1989, S. 185–202.

Jannidis, Fotis: Figur und Person. Beiträge zu einer historischen Narratologie, Berlin 2004.

Jannidis, Fotis: Perspektiven quantitativer Untersuchungen des Novellenschatzes, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 47 (2017), S. 7-27.

Kindt, Tom und Tilmann Köppe: Erzähltheorie. Eine Einführung, Stuttgart 2014.

Krug, Markus: Techniques for the Automatic Extraction of Character Networks in German Historic Novels, Würzburg 2020.

Mecklenburg, Norbert: Theodor Fontane. Romankunst der Vielstimmigkeit, Frankfurt am Main 1998. 

Moretti, Franco: Network Theory. Plot Analysis, Stanford Literary Lab Pamphlets 2 (2011).

Sagarra, Eda: Theodor Fontane. „Der Stechlin“, München 1986.

Trilcke, Peer: Social Network Analysis (SNA) als Methode einer textempirischen Literaturwissenschaft, in: Philip Ajouri, Katja Mellmann u. Christoph Rauen (Hgg.): Empirie in der Literaturwissenschaft, Münster 2013, S. 201–247.

Links

Gius, Evelyn  u.a.: CATMA [zuletzt aufgerufen am 09.03.2021].

Networkx. Network Analysis in Python: networkx.algorithms.centrality.betweenness_centrality [zuletzt aufgerufen am 09.03.2021].

Networkx. Network Analysis in Python: networkx.algorithms.centrality.closeness_centrality [zuletzt aufgerufen am 09.03.2021].

Networkx. Network Analysis in Python: networkx.algorithms.centrality.degree_centrality [zuletzt aufgerufen am 09.03.2021].

Pyvis [zuletzt aufgerufen am 09.05.2021]. Copyright (c) 2018, West Health Institute All rights reserved.

Fußnoten

  1. Das zeigt sich, wenn man einen Blick darauf wirft, wer in der Forschung als Hauptfigur bezeichnet wird. Naheliegend ist, dass oft Dubslav von Stechlin die Hauptfigur des Romans genannt wird (vgl. bsp. Fries/Jaap 1998, S. 192; Mecklenburg 1998, S. 281). Eda Sagarra nennt Lorenzen eine von drei Hauptfiguren (vgl. Sagarra 1986, S. 29). Mit den anderen beiden sind dann wohl Dubslav und Melusine gemeint, die sie selbst an anderer Stelle auch eine Hauptfigur nennt (Sagarra 1986, S. 16). Downing dagegen nennt beispielsweise alle Stechline, also Dubslav, Woldemar und Adelheid, Hauptfiguren (vgl. Downing 2018, S. 272).
  2. Er wird auch bei Moretti schon genannt (vgl. Moretti 2011, S. 8).
  3. Diesen Wert habe ich auf Basis der von mir annotierten Daten berechnet. Das zugehörige Jupyter Notebook findet sich in meinem Repository.
  4. Eine detailliertere Beschreibung meiner Annotationsrichtlinien findet sich in meinem Repository.
  5. Ursprünglich verwendete man den Begriff ‘Protagonist’ tendenziell für die eine zentrale Figur eines Textes, den Begriff ‘Hauptfigur’ dagegen auch für Gruppen. Nachdem Metzlers Literaturlexikon ‘Protagonist’ aber auch für die „Gruppe der Hauptakteure in fiktionalen Texten“ (Burdorf/Kühnel 2007, S. 616) nennt, verwende ich die Begriffe, wo es nicht auf die ursprüngliche Differenz ankommt, synonym, bzw. bevorzuge das genderneutralere Wort „Hauptfigur“.
  6. Für genauere Benutzung siehe Dateien auf github.
  7. Das betrifft nicht die Angestellten, die im Haus arbeiten, sondern der Portier und seine Familie, sowie der Kutscher und seine Frau.
  8. Ich will mich im Folgenden nur noch auf das Netzwerk in Abbildung 3 beziehen.
  9. Der Übersichtlichkeit halber sind die Netzwerke mit Einfärbungen als ungerichtet visualisiert.
  10. Alle Werte sind hier auf die zweite Nachkommastelle gerundet.
  11. Von der Betweenness Centrality sehe ich hier wegen der oben beschriebenen Gründe ab.