Ein Brief zur Provenienz des Likedeeler-Manuskripts
von Anika Resing
Zum Theodor-Fontane-Archiv in der unmittelbaren Nachkriegszeit sind kaum verlässliche Überlieferungen erhalten, da Aufzeichnungen und Belege im Chaos jener Jahre weitestgehend verloren gingen. Viele ehemalige Mitarbeitende hatten die Brandenburgische Provinzialverwaltung, Berlin oder gar Deutschland verlassen. Lediglich Jutta Fürstenau (1913–1997), die nach Hermann Frickes (1895–1982) Abkommandierung zur Hauptfürsorgestelle für Kriegsbeschädigte im Jahr 1942x zunehmend Verantwortung im Schrifttumsarchiv und in der Landesbücherei übernommen und im April 1944 den Abtransport der Archivalien betreut hatte, blieb auch nach Kriegsende noch eine Zeit lang für die Kulturabteilung der Brandenburgischen Provinzialverwaltung tätig. Nach wie vor wohnhaft in Berlin, war sie zunächst an der Bergung verschiedener Kulturgüter beteiligt, bevor sie 1947 an die Akademie der Wissenschaften Berlin (Ost) wechselte.x
Am 17. September 1952 wandte sich Jutta Neuendorff-Fürstenau, seit 1947 mit Otto Neuendorff (1903–1989) verheiratet, an ihren ehemaligen Vorgesetzten Hermann Fricke, um ihn »einmal wieder ›in Sachen Fontane‹« zu kontaktieren.
Der ehemalige Archivleiter Fricke war zu Beginn der 1950er in die BRD umgesiedelt und laut Adresse zu jener Zeit wohnhaft in Neuss am Rhein. In ihrem Brief informiert Neuendorff-Fürstenau Fricke über eine am 25. September 1952 stattfindende Versteigerung von »2 Seiten Likedeeler Manuscript«, die »sich als in Ihrem Buche abgedruckt feststellen«. Theodor Fontanes letzter Romanentwurf Die Likedeeler war bei der großen Nachlassversteigerung am 9. Oktober 1933 bei dem Auktionshaus Hellmut Meyer & Ernst nicht verkauft worden und gehörte daher – als Nachverkauf – ursprünglich zu dem 1935 von der Brandenburgischen Provinzialverwaltung für das Brandenburgische Schrifttumsarchiv erworbenen Fontane-Bestand. 1938 wurde Fontanes Likedeeler-Projekt von Fricke aus dem Nachlass veröffentlicht und gehörte im April 1944 zu den Kulturgütern, die zur Sicherung gegen Luftangriffe ausgelagert wurden.
Über die genauen Umstände, wie die Manuskriptseiten vom Auslagerungsort, dem Provinzialgut Rotes Luch bei Müncheberg, nach Berlin in das Auktionshaus Galerie Gerd Rosenx am Kurfürstendamm gelangten, ist bisher nichts Näheres bekannt. In ihrem Schreiben weiß Neuendorff-Fürstenau jedoch zu berichten: »Der eine Besitzer ist, wie Herr Rosen angab, aus Westdeutschland, der andere H. Meyer. In einem Ferngespräch gab Herr M. an, daß er dieses Manuscript (S. 133-134) noch von der Versteigerung aus Friedrich Fontanes Besitz – das war wohl 1932 – persönlich erworben hätte.« Es liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei dem hier erwähnten »H. Meyer« um den Autographenhändler Hellmut Meyer handelt und sich die genannte Versteigerung auf die von 1933 bezieht, bei der das Likedeeler-Fragment erstmals angeboten wurde. Anders als von »H. Meyer« behauptet, wurde jedoch 1935 das gesamte Likedeeler-Fragment von der Brandenburgischen Provinzialverwaltung erworben. Neuendorff-Fürstenau kommentiert diesen Sachverhalt daher scharfsinnig: »Wenn es in Ihrem Buche enthalten wäre, hätte er es Ihnen wohl zur Verfügung gestellt, und Sie hätten vergessen, den Besitzer zu vermerken. Mir kommt das nicht sehr wahrscheinlich vor.«
Die Antwort von Fricke auf diesen Brief ist leider nicht überliefert, doch findet sich in einem späteren Bericht, den Neuendorff-Fürstenau 1955 über ihre Beobachtung von Handschriften aus dem Bestand des Fontane-Archivs auf dem Autographenmarkt verfasste, im Abschnitt über die Auktion im September 1952 der Hinweis: »Herr Dr. Fricke bestätigte mir später, daß er in seiner Publikation kein anderes Material als das im Vorwort genannte benutzt habe.«x
Aufgrund dieser und weiterer Beobachtung galt es seither als erwiesen, dass nicht alle der noch immer als vermisst geltenden Handschriften vernichtet, sondern »nur« entwendet wurden.x
Die Geschichte der Fontane-Handschriften liest sich fast wie eine Räubergeschichte und der alte Herr aus der Potsdamer Straße würde – wenn es nicht ihn selbst beträfe – die größte Freude an solch einer Story gehabt haben [...]
Empfohlene Zitierweise:
Anika Resing: »In Sachen Fontane«. Ein Brief zur Provenienz des Likedeeler-Manuskripts, Blogserie Objekt des Monats, hg. v. Theodor-Fontane-Archiv, 16.6.2025. URL: https://www.fontanearchiv.de/blogbeitrag/2025/06/16/in-sachen-fontane
Fußnoten
- Im Jahr 1944 wurde Hermann Fricke für den Volkssturm einberufen und in den letzten Kriegsmonaten schwer verwundet. In der Nachkriegszeit war er u. a. Mitarbeiter bei Suhrkamp (im Rahmen einer geplanten Fontane-Gesamtausgabe), Dozent an Berliner Volkshochschulen und erstellte für die erhaltenen Fontane-Handschriften im Märkischen Museum ein kurzes Bestandsverzeichnis. Nach 1945 befand er sich weder in Anstellung bei der Brandenburgischen Provinzialverwaltung, noch engagierte er sich nachweislich um den Verbleib des Bestands des Potsdamer Fontane-Archivs.
- Ab 1949 war Jutta Neuendorff-Fürstenau weiterhin als »Grenzgängerin« bei der Arbeitsstelle des Goethe-Wörterbuchs an der Akademie der Wissenschaften Berlin (Ost) beschäftigt (ab 1956 als Leiterin dieser Arbeitsstelle). 1967 erhielt sie, wie viele andere »Grenzgänger:innen«, ihre fristlose Kündigung. Zwischen 1960 und 1990 war sie u.a. Mitarbeiterin an diversen Bänden von Fontane-Gesamt- und Briefausgaben.
- Die Galerie Gerd Rosen gilt als die erste Kunstgalerie, die nach dem Krieg ihre Geschäfte aufnahm. Eröffnet im August 1945 in Berlin-Charlottenburg, stellte sie zunächst ausschließlich Künstler aus, die in den Jahren zuvor als »entartet« gegolten hatten, und avancierte rasch zum Zentrum der Berliner Kunst-Avantgarde. Ab 1948 rückten aus finanziellen Erwägungen das Antiquariat und die Buch- und Kunstauktionen in den Vordergrund des geschäftlichen Interesses. Kurz nach dem Tod von Gerd Rosen (1903–1961) wurde die Galerie Gerd Rosen geschlossen. Rosens Mitarbeiterin Gerda Bassenge (1905–1995) gründete daraufhin ihr eigenes Unternehmen und viele Mitarbeitende setzten ihre Tätigkeit in der Galerie Bassenge fort.
- Zitiert nach: Klaus-Peter Möller und Peer Trilcke (2020): Das Theodor-Fontane-Archiv 1945 – und 75 Jahre danach. Unbekannte Dokumente zur Bestandsgeschichte. In: Fontane Blätter. Heft 110, S. 18.
- Geprägt von Translokationen sowie wechselnden Eigentums- und Besitzverhältnissen ist die Provenienz für das Theodor-Fontane-Archiv eine wichtige Wissenskategorie. Die Auseinandersetzung mit diesen nachverfolgbaren Übertragungsprozessen und deren Dokumentation erfordert seit jeher auch eine intensive Beschäftigung mit dem Autografenhandel. Zu diesem Zweck wird im Archiv ein Verzeichnis geführt, in dem sämtliche auf dem Autografenmarkt auftauchende Fontane-Handschriften systematisch erfasst, ergänzt und fortlaufend aktualisiert werden.