Adolph Menzels Gouache für Emilie Fontane
von Anna Busch
Am 16. März 1872 widmete Adolph Menzel (1815–1905) Emilie Fontane eine kleine, in Aquarell- und Gouachefarben ausgeführte Zeichnung mit folgenden Worten:
Möge, Verehrte Frau,
Ihre Enttäuschung beim
Anblick des umseitigen
nicht so groß sein[,] um Ihnen
zur Warnung zu werden,
Jemals wieder bei jeweili-
ger Gelegenheit mit
Jemandem ein
Vihlipbchen zu essen.
B. 16. März 1872.
Bei dem genannten »Vielliebchen« handelt es sich um einen beliebten Brauch, der im 19. Jahrhundert in Mode gekommen war und der sich in Bildern, literarischen Werken – Theodor Fontane verwendet den Vielliebchenbrauch als literarisches Motiv in seinen Romanen Stechlin, Irrungen, Wirrungen und Frau Jenny Treibel – und Kompositionen finden lässt. Fand man etwa eine Mandel oder eine Haselnuss mit doppeltem Kern, das »Vielliebchen«, war man aufgefordert, sie mit einer anderen Person zu teilen, was gleichsam als Pakt oder Wette zu verstehen war. Bei der nächsten Begegnung mussten sich die beiden so scherzhaft Verbundenen mit der Formel »Guten Morgen, Vielliebchen!« begrüßen. Wer das vergessen hatte, war dem aufmerksameren Teil ein kleines Geschenk schuldig. Offenbar hatte Adolph Menzel versäumt seinen Teil des Pakts einzulösen und war nun Emilie Fontane eine kleine Gabe schuldig geworden. Seine Schuld beglich er mit dem Bildnis der lesenden Dame.
Das typische Motiv der Lesenden findet sich nicht nur bei Adolph Menzel, sondern bei zahlreichen Künstlerinnen und Künstlern vor allem des 19. Jahrhunderts – zu einer Zeit, als Frauen des Bürgertums das Lesen für sich entdeckten. Die Lektüresituation, im Freien, an Bord eines Schiffes, mit Schirm und Umschlagtuch gegen den Wind geschützt, verweist auf eine Integration von Literatur in Alltags- und Ausflugssituationen und neben den steigenden Alphabetisierungsraten auf eine umfassendere Zugänglichkeit von Büchern und Zeitschriften durch öffentliche Bibliotheken sowie auf die Relevanz dieses populären Zeitvertreibs.
Wie Familienbriefe belegen, kannten sich Emilie Fontane und Adolph Menzel zum Zeitpunkt des Geschenks der Lesenden Dame bereits über 15 Jahre. Emilie Fontane war sowohl mit der Schwester des Malers, Emilie Krigar, als auch mit Menzel selbst befreundet. Ihr Ehemann, Theodor Fontane, und Menzel verkehrten beide im Rütli und im Tunnel über der Spree. Regelmäßig sah man sich bei gesellschaftlichen Anlässen.
Emilie Fontane bewahrte das Bildnis der Lesenden Dame eingeklebt im Tunnel-Album der Fontanes auf, wie die Klebespuren, die sich auf der Rückseite erkennen lassen, belegen. Nach Emilies Tod musste das Bild aus finanziellen Gründen verkauft werden. Nach verschiedenen Besitzstationen konnte es 2023 mit finanzieller Unterstützung durch die Kulturstiftung der Länder und die Ernst von Siemens Kunststiftung für das Theodor-Fontane-Archiv erworben werden. Derzeit ist es bis November 2024 in der Ausstellung »Emilie200« zu sehen.
Literatur
Anna Busch: Neuerwerbung: Adolph Menzels »Lesende Dame« im Theodor-Fontane-Archiv, in: Fontane Blätter 117 (2024), S. 8–23.
Pressemitteilung zum Erwerb der Lesenden Dame durch das Theodor-Fontane-Archiv vom 15.11.2023.
A World Caught with the Eye and Held by the Pencil. Drawings by Adolph Menzel. Stephen Ongpin Fine Art. London 2019, Kat.-Nr. 15.
Klaus-Peter Möller: Mit Zopf und Knebelbart. Adolph Menzels Albumblatt für Theodor Fontanes Tunnel-Album. In: Fontane Blätter 102 (2016), S. 132–156.
Auktionskatalog 229. Kunst des 19. Jahrhunderts. Berlin, Grisebach, 26.10.2014, Kat.-Nr. 202.
Empfohlene Zitierweise: Anna Busch: »Lesende Dame. Adolph Menzels Gouache für Emilie Fontane«, Blogserie »Objekt des Monats«, hg. v. Theodor-Fontane-Archiv, 30.5.2024. URL: https://www.fontanearchiv.de/blogbeitrag/2024/05/30/lesende-dame-1