Die Blutsauger der Villa Quandt

Eine Fledermaushöhle im Theodor-Fontane-Archiv

Von Jule Ana Herrmann

 (öffnet Vergrößerung des Bildes)Bild: Peter Walther
Die Fontane-Büste vor der Villa Quandt im Mondschein

 

Ein Schlüssel dreht sich in der schweren Kellertür, die sich langsam und lautlos öffnet. Nur durch wenige kleine Vertiefungen im Gemäuer, wie handtellergroße Schießscharten, gelangt ein wenig des verblassenden Abendlichts ins Dunkel des Gewölbes. Uns stockt der Atem.

Da! Wir zucken zusammen. War dort nicht ein schattenhaftes Wesen dicht an uns vorbeigehuscht?

Die Kollegin schaltet das Licht an. Erleichtert atmen wir auf und finden uns in einem hell gestrichenen, mit seinen schwungvollen Winkeln beinahe an moderne Architektur erinnernden Kellerraum des Fontane-Archivs wieder. Nur wenige Mitarbeiter:innen wussten von ihr, viele sehen sie zum ersten Mal: die Fledermaushöhle des Theodor-Fontane-Archivs.

Diejenigen von uns, die bislang geglaubt hatten, das Literaturarchiv bewahre nur Kulturgüter wie alte Handschriften und Bücher, wurden nun eines Besseren belehrt: Auch Fledermäuse zählen zu den erhaltenswerten Schätzen des Hauses. Sie bewohnten die Villa bereits vor ihren jetzigen Mietern, dem Fontane-Archiv und dem Brandenburgischen Literaturbüro. Das seit 1993, seit der Nutzung durch die Rote Armee und die sowjetische Militärverwaltung beinahe vierzehn Jahre lang leerstehende und ruinöse Gebäude war ein optimales Habitat für die Fledertiere, die sich in den herrschaftlichen Mauern schnell ansiedelten.

Bild: SPSG
Diese Collage aus Einzelbildern der Frontseite der Villa Quandt wurde von der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten 2006 zu Beginn der Sanierung erstellt und zeigt eindrücklich den Zustand des Gebäudes vor Beginn der Arbeiten.

Als 2006 mit der Sanierung der Villa begonnen wurde, stellte sich nun die Frage, wie der Lebensraum der Tiere erhalten werden konnte. Denn auch wenn sich der ohnehin nicht gerade positive Ruf der vermeintlichen Blutsauger seit Beginn der Pandemie verschlechtert haben dürfte, zählen Fledermäuse zu den Nützlingen. Einige Arten fressen 1000 bis 2000 Insekten pro Nacht, sie bestäuben Blüten, verbreiten Samen und sind so ein relevanter Bestandteil des Ökosystems. Doch ihre Lebensräume sind unter anderem durch die Intensivierung der Landwirtschaft, die mit einem stetig steigenden Einsatz von Pestiziden einhergeht, und durch Sanierungen alter Gebäude bedroht. Ein Großteil der etwa 25 in Deutschland vorkommenden Fledermausarten ist gefährdet und steht auf der roten Liste.

Bei der artenschutzgerechten Sanierung und Restaurierung der Villa Quandt wurde daher ein Gewölberaum ausschließlich für die bedrohten Besetzer eingerichtet. Kleine Löcher in der Außenwand dienen den Tieren als Einflugschneise in die mit nichts als zwei Fledermauskästen ausgestattete ‚Höhle‘.

Ob die Fledermäuse mit der Renovierung ihres Domizils zufrieden waren, ist jedoch fraglich, denn in der Höhle selbst wurden – im Gegensatz zur Wiese vor und hinter der Villa – bislang noch keine gesichtet. Womöglich handelt es sich bei ihrem Nichterscheinen auch nur um die Rache der Fledermaus, die durch ihr Ausbleiben den Namensgeber des Archivs boykottiert. Schließlich äußerte dieser sich über die berühmte Operette von Johann Strauss, deren »350te[r] Vorstellung« er 1880 zu »[s]einem künstlerischen und moralischen Entsetzen […] beiwohnte«: »O, ›Deutschland, Deutschland über alles.‹ Sind wir ’runter gekommen!«

Dem Archiv gemäß wissenschaftlich die Anwesenheit der Tiere überprüfen, können wir aktuell nicht mehr, denn sie dürfen nun bis März ihren wohlverdienten Winterschlaf halten.