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Blog Post16.05.2025

Lost Art

Das Theodor-Fontane-Archiv und seine Kriegsverluste

von Clara Funk und Anna Busch

Archive stehen für das Auf- und Bewahren, für das Speichern und Bereitstellen, für Informationen und Vollständigkeit. Tatsächlich aber sind selbst institutionalisierte Archive unvollständig. Ihre Bestände sind voller Lücken, in vielem gleichen sie einem Flickenteppich aus Erhaltenem, Überlieferten und Ergänztem. Diese Unvollständigkeit ist nicht nur Ergebnis von Verlusten durch Zeit, Krieg oder Verfall, sondern oft auch Ausdruck historischer Brüche, politischer Umwälzungen oder systematischer Enteignung.

In diesem Spannungsfeld zwischen dem Anspruch auf Vollständigkeit und der Realität des Fehlens kommt der systematischen Erfassung vermisster Bestände besondere Bedeutung zu. Hier setzt die Lost Art-Datenbank an: Sie schafft eine Möglichkeit, die Leerstellen sichtbar zu machen und die Geschichte der Verluste zu dokumentieren. Für das Theodor-Fontane-Archiv ist sie daher ein zentrales Instrument, um die fragmentarische Überlieferung zu kontextualisieren, aufzuklären – und im besten Fall zu ergänzen.

Image: Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste

Die Lost Art-Datenbank, betrieben vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste, dient der Dokumentation von Kulturgütern, die infolge nationalsozialistischer Verfolgung enteignet, verlagert oder verloren gegangen sind. In ihr werden Such- und Fundmeldungen von Museen, Archiven, Bibliotheken und Privatpersonen mit dem Ziel veröffentlicht, Transparenz und Provenienzforschung zu fördern sowie gerechte Lösungen in Raubkunstfällen zu ermöglichen. Zurück gehen diese Bestrebungen auf die Grundsätze, wie sie auf der 1998 vom United States Holocaust Memorial Museum ko-organisierte Washington Conference on Holocaust-Era Assets beschlossen wurden.

 (opens enlarged image)Image: TFA
Typischer Eintrag des Theodor-Fontane-Archivs in der Lost Art-Datenbank. Die orangene Markierung steht für »Kriegsbedingt verbrachtes Kulturgut«.

In der Datenbank, die seit 2000 online ist, werden Such- und Fundmeldungen öffentlicher und privater Institutionen sowie von Privatpersonen zusammengeführt. In den Grundsätzen, welche Objekte in Lost Art gemeldet werden können, heißt es: »Einzelobjekte oder Sammlungen, die im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg verbracht oder abhandengekommen sind, von denen dies vermutet wird oder bei denen dies nicht ausgeschlossen werden kann.« So können auch Verdachtsfälle gelistet werden. In den einzelnen Meldungen wird mit einem farbigen Streifen gekennzeichnet, um welche Art Verlust es sich handelt. Ein grüner Streifen bedeutet, dass es sich um »NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut« handelt. Ein orangener Streifen, wie bei den Suchmeldungen des Fontane Archivs, steht für »Verlustumstand gemeldet als kriegsbedingt verbrachtes Kulturgut«. Wenn die Verlustumstände gänzlich ungeklärt sind, ist keine Farbe zugeordnet.

Das Theodor-Fontane-Archiv nutzt die Lost Art-Datenbank folglich zur Dokumentation seiner vermissten Bestände. Wenige Monate vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs gingen zahlreiche wertvolle Materialien – darunter Briefe, Manuskripte und Bücher aus dem ursprünglichen Archivbestand – verloren oder gelten bis heute als verschollen. Durch die Einträge in der Lost Art-Datenbank macht das Archiv diese Verluste öffentlich sichtbar und schafft damit die Voraussetzung für mögliche Rückführungen.
 

Sucheinträge des Fontane-Archivs wurden erstmals im Jahr 2002 eingepflegt. Derzeit finden sich 919 Einträge – darunter zahlreiche Sammeleinträge. Zukünftig sollen auch diese Sammeleinträge aufgeschlüsselt werden, um auch hier die genaue Dokumentation der vermissten Bestände des Theodor-Fontane-Archivs in Einzeleinträgen zu ermöglichen, wie sie bislang nur in der Publikation von Manfred Horlitz Vermisste Bestände des Theodor Fontane Archivs  und auf der Website des Archivs dokumentiert sind. 

 (opens enlarged image)Image: TFA
Aufstellung von Theodor Fontanes Handbibliothek im Theodor-Fontane-Archiv

 

Ein Objekt, das, wie der Auszug aus der Datenbank oben zeigt, vermisst wird, ist ein Exemplar  von Hermann Grimms Goethe-Vorlesungen aus der Handbibliothek Fontanes mit Marginalien. Theodor Fontane hatte es zum Jahreswechsel 1867/77 rezensiert, es könnte sich dabei um sein Rezensionsexemplar handeln. Der Eintrag in der Lost Art Datenbank verzeichnet neben dem Titel und der Objektart auch die ursprüngliche Signatur des Theodor-Fontane-Archivs, eine dort erstellte Beschreibung des Gegenstands und die Bestandszugehörigkeit, in diesem Fall »W Theodor Fontanes Handbibliothek«.

In den letzten Jahren konnten durch die systematische Nutzung der Lost Art-Datenbank und die Zusammenarbeit mit anderen Institutionen auch einzelne vermisste Bestände erfolgreich an das Theodor-Fontane-Archiv zurückgegeben werden. So wurden unter anderem Briefe und Manuskripte, die in der Nachkriegszeit in den Antiquariats- oder Privatbesitz gelangt waren, identifiziert und in den Bestand des Theodor-Fontane-Archivs zurückgeführt. Diese Rückgaben sind oft das Ergebnis intensiver Provenienzforschung sowie der Bereitschaft der heutigen Besitzer, historische Gerechtigkeit herzustellen. Jede Rückkehr eines verloren geglaubten Objekts ist nicht nur ein Gewinn für die Forschung, sondern auch ein bedeutender Schritt zur Wiederherstellung der historischen Integrität des Archivs. Solche Erfolge bestärken das Fontane-Archiv in seiner kontinuierlichen Arbeit an der Sichtbarmachung und Rekonstruktion seiner Bestände. 

Literatur

Hermann Fricke: Das Theodor-Fontane-Archiv. Einst und jetzt. In: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte, Bd. 15 (1964), S. 165–181.

Joachim Schobeß: Der Nachlass Theodor Fontanes 1898–1965. Dreißig Jahre Theodor-Fontane-Archiv in öffentlicher Hand. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 12 (1965), S. 729–745.

Die Ereignisse im »Roten Luch« 1945 bis 1946 und der Wiederaufbau des Theodor-Fontane-Archivs. Ein abschließender Bericht. In: Fontane Blätter, Bd. 2, Heft 4 (1971), S. 276–282.

Christel Laufer: Der handschriftliche Nachlaß Theodor Fontanes. In: Fontane Blätter 20 (1974), S. 264–287.

Manfred Horlitz: Vermißte Bestände des Theodor-Fontane-Archivs. Eine Dokumentation im Auftrag des Theodor-Fontane-Archivs, Potsdam 1999.

Klaus-Peter Möller und Peer Trilcke: Das Theodor-Fontane-Archiv 1945 – und 75 Jahre danach. Unbekannte Dokumente zur Bestandsgeschichte. In: Fontane Blätter 110 (2020), S. 8–23.

Klaus-Peter Möller: Ernst Georg Bardey und Carl Blechen. Zwei faszinierende Objekte zurück im Theodor-Fontane-Archiv. In: Fontane Blätter 110 (2020), S. 24–38.

Empfohlene Zitierweise:

Clara Funk, Anna Busch: Lost Art. Das Theodor-Fontane-Archiv und seine Kriegsverluste, Blogserie Objekt des Monats, hg. v. Theodor-Fontane-Archiv, 16.5.2025. URL: https://www.fontanearchiv.de/blogbeitrag/2025/05/16/lost-art