Ein Brief an Emilie Fontane ist ins Archiv zurückgekehrt
von Rainer Falk
Emilie Fontane war eine leidenschaftliche Briefeschreiberin. Beredtes Zeugnis davon legen die rund 180 erhaltenen Briefe an ihren Ehemann ab, die mit der von Gotthard Erler 1998 herausgegebenen dreibändigen Edition im Rahmen der Großen Brandenburger Ausgabe fast alle gedruckt vorliegen. Überliefert sind darüber hinaus mehr als 300 bislang größtenteils unveröffentlichte Schreiben, die über einen Zeitraum von mehr als sechs Jahrzehnten entstanden und von denen die meisten an die gemeinsamen Kinder, die Stiefmutter und den Freundeskreis adressiert sind. Der Großteil der von Emilie verfassten Briefe muss freilich, wie üblich, als verloren gelten; die tatsächliche Anzahl betrug vermutlich viele tausend.
Den Gepflogenheiten und der Etikette des 19. Jahrhunderts entsprechend schrieb Emilie Fontane zuweilen auch Briefe an Korrespondenzpartnerinnen oder -partner ihres Mannes oder erhielt Schreiben von diesen. Besonders häufig trat dieser Fall ein, wenn es darum ging, Dank für etwas abzustatten. Der vorliegende Brief stellt insofern ein Kuriosum dar, als der Verfasser sich darin dafür bedankt, dass ihm gedankt wurde, und zwar nicht nur von der Adressatin, sondern auch von deren Tochter Martha und dem in Münster lebenden Sohn Theo junior. Das Datum des Briefes, der 17. Januar 1890, legt die Vermutung nahe, dass es sich bei der »Liebeserklärung« des Verfassers, für die die drei ihm gedankt hatten, um Glückwünsche zum 70. Geburtstag Theodor Fontanes gehandelt haben dürfte. Tatsächlich ist das der Fall, denn der Verfasser des Briefes war kein Geringerer als Paul Heyse, der Fontane »zum 30. Dezember 1889« ein Gedicht gesandt hatte (Brief Nr. 135 vom 27. Dezember 1889).
Heutigen Leserinnen und Lesern ist Paul Heyse vermutlich allenfalls als der erste deutsche Autor belletristischer Werke bekannt, dem der Nobelpreis für Literatur zuerkannt worden ist. Als die Entscheidung der Schwedischen Akademie 1910 fiel, waren Theodor und Emilie Fontane bereits zwölf bzw. acht Jahre tot. Zeitgenössischen Leserinnen und Lesern hingegen galt Heyse als der bedeutendste lebende Schriftsteller deutscher Sprache. Mit der Prognose, dass Heyse seiner »literarischen Epoche sehr wahrscheinlich den Namen geben« werde, gratulierte Fontane dem elf Jahre Jüngeren zum 60. Geburtstag (Brief Nr. 139 vom 9. März 1890). Das Lesepublikum sah Heyse in der Nachfolge Goethes, zu dessen Statthalter sich dieser auch selbst gern stilisierte. Entsprechend fehlt im Brief an Emilie auch nicht das obligate Goethe-Zitat, wenn Heyse erklärt, einer Ablehnung seiner »Liebeserklärung« wäre er mit Philines Worten aus Wilhelm Meisters Lehrjahren begegnet: »Wenn ich dich liebe, was geht’s dich an?«
Fontane und Heyse hatten einander im literarischen Sonntagsverein Tunnel über der Spree kennengelernt, dem Ersterer seit 1846 angehörte und dem Letzterer am 28. Januar 1849 beitrat. Ihrer ersten Begegnung dort setzte Heyse 40 Jahre später mit dem erwähnten Glückwunschgedicht ein literarisches Denkmal. Zu diesem Zeitpunkt war die Freundschaft allerdings schon merklich abgekühlt, selbst wenn Heyse, der im Mai 1854 vom bayerischen König Maximilian II. zum Hofdichter berufen worden war, im Brief an Emilie erklärt, in München die »Freunde aus der Jugend« zu vermissen. Die Gründe dafür waren nach Meinung der Fontanes vor allem bei Heyse zu suchen, wie ein Brief Emilies vom 2. März 1885 deutlich werden lässt:
Mein Mann hatte, kann ich wohl sagen, das Glück bei der Première, die er hätte besprechen müssen, krank zu sein u. wir lasen dann in den Tagen von Paul’s Anwesenheit seine schönen Reisebriefe u. andre Gedichte von ihm, u. erquickten uns daran, was wir an seiner Person nicht konnten, wie er uns denn bei jedem Besuche fremder wird: er ist immer in Pose u. wir alten Leute, die im Leben so viel für ihn übrig gehabt haben, werden immer befangen u. möchten sagen: wirf doch bei uns Dein Staatskleid ab. Und wir sind es nicht allein, frühere bewährte Freunde äußern sich ebenso, für niemand hat er mehr Zeit u. wendet sich den neuen Göttern zu. Seinetwegen thut es uns leid, wir können es ertragen.
So offen äußerte Emilie diese Meinung freilich nur in der vertrauten Korrespondenz mit Clara Stockhausen, der Adressatin des Briefes. Erst seit Kurzem steht dieses Schreiben – sowie viele weitere – in einer von Gotthard Erler herausgegebenen Auswahlausgabe der Briefe Emilie Fontanes gedruckt zur Verfügung.
Nach dem Tod Paul Heyses tauschten dessen Witwe Anna und Fontanes Sohn Friedrich die Briefe der beiden Verstorbenen untereinander zurück. So konnte es geschehen, dass die Briefe Heyses an Theodor Fontane verkauft wurden, als dessen Nachlass 1933 beim Berliner Antiquariat Hellmut Meyer & Ernst ›unter den Hammer‹ kam; 1957 wurden sie auf einer weiteren Auktion vom Deutschen Literaturarchiv Marbach erworben, wo sie noch heute verwahrt werden. Anders der Brief Heyses an Emilie Fontane: Er verblieb im Nachlass und gehörte 1934 zum Gründungsbestand des Theodor-Fontane-Archivs, zählte aber dann zu den kriegsbedingten Verlusten, die das Archiv 1945 hinnehmen musste. Völlig überraschend tauchte der Brief unlängst im Angebot eines österreichischen Antiquars auf und wurde von diesem anstandslos zurückerstattet. Diese Restitution bestärkt die Hoffnung, dass in Zukunft noch viele weitere vermisste Bestände zurückgeführt werden können.
Literatur
Der Briefwechsel zwischen Theodor Fontane und Paul Heyse. Hrsg. von Gotthard Erler. Berlin u. Weimar 1972.
Emilie u. Theodor Fontane: Der Ehebriefwechsel. Bd. 1: Dichterfrauen sind immer so. 1844-1857. Bd. 2: Geliebte Ungeduld. 1857-1871. Bd. 3: Die Zuneigung ist etwas Rätselvolles. 1873-1898. Hrsg. von Gotthard Erler unter Mitarb. von Therese Erler. Berlin 1998.
Walter Hettche: Korrespondenz mit Literaten. 1. Paul Heyse. In: Theodor Fontane Handbuch. Hrsg. von Rolf Parr, Gabriele Radecke, Peer Trilcke u. Julia Bertschik. Bd. 1. Berlin u. Boston 2023. S. 747–751.
Emilie Fontane: Dichterfrauen sind immer so. Eine Autobiographie in Briefen. Hrsg. von Gotthard Erler u. Christine Hehle. Berlin 2024.
Empfohlene Zitierweise: Rainer Falk: »›Ihr alter ewiger Paul Heyse‹. Ein Brief an Emilie Fontane ist ins Archiv zurückgekehrt«, Blogserie Objekt des Monats, hg. v. Theodor-Fontane-Archiv, 6.11.2024. URL: https://www.fontanearchiv.de/blogbeitrag/2024/11/6/ihr-alter-ewiger-paul-heyse