4. January 1890, Saturday
Event
- 04.01.1890
- Anläßlich von Fs 70. Geburtstag laden ›Presseclub‹, ›Rütli‹, die ›Literarische Gesellschaft‹ und Vossische Zeitung zu einem offiziellen Festessen ins gediegene Englische Haus in der Mohrenstraße 49 ein. Die Gesellschaft umfaßt ungefähr 300 Personen, nach Ludwig Pietsch (Vossische Zeitung vom 7. 1. 1890) „gleichsam der Extrakt des literarischen und zur Literatur in nahen Beziehungen stehenden Berlin“. Man sitzt rund vier Stunden zu Tisch; an der Ehrentafel unter den Kaiserbildnissen sitzen F und seine Familie, Kultusminister Gustav von Goßler, Friedrich Spielhagen, Karl Frenzel, der Landgerichtsdirektor und Haupteigentümer der Vossischen Zeitung Carl Robert Lessing, der Vorsitzende des Vereins ›Berliner Presse‹ Ernst Wichert, Friedrich Stephany, Heinrich Karl Brugsch (Brugsch-Pascha) und Julius Wolff. Friedrich Spielhagen begrüßt als Vorsitzender des Festkomitees die Anwesenden und bringt den Kaisertoast aus. Für die Dekoration des Festsaals ist der städtische Gartendirektor Mächtig zuständig; in der Orchesternische des Speisesaals steht Fs Gipsbüste in einem, so Ludwig Pietsch in der Vossischen Zeitung vom 7. 1. 1890, „durch rothgefärbtes Licht mysteriös erhellten Lorbeerhain“. Die mehrseitige Tischkarte hat August von Heyden gestaltet – die Innenseite enthält die Speise- und Weinkarte, in den Federzeichnungen auf dem Titelblatt finden sich Anspielungen auf Fs Dichtungen und sein Leben; zu sehen sind u. a. Archibald Douglas im Pilgerkleid sowie die alte Dörr aus Irrungen, Wirrungen. Karl Frenzel eröffnet die lange Reihe der Festvorträge mit eigenen Versen; F „hatte geglaubt, Karl Frenzel zu kennen und erblickte ihn nun, auch literarisch, von einer ganz neuen Seite“. F antwortet (nach dem Bericht Pietschs) nur kurz: „er könne und wolle nicht reden, sondern Frenzel und allen Anwesenden nur schlicht sagen: ich danke Ihnen“ Ernst Wichert bringt ein ‚Hoch‘ auf Gustav von Goßler aus, wodurch dieser sich veranlaßt sieht, eine improvisierte Rede zu halten, in der er sich für eine staatliche Unterstützung auch der modernen Literatur ausspricht und den Anteil der deutschen Literatur an der deutschen Einigung würdigt; er stößt auf den Schriftstellerverband und die Presse an. F hält Goßlers Rede für „‚epochemachend‘ in unsrem preußischen literarischen Leben“ und ist der Ansicht: „Solche Rede hat, den ‚catilinarischen Existenzen‘ gegenüber, noch niemals ein preußischer Minister gehalten.“ Friedrich Stephany würdigt in einem Toast Fs Tätigkeit als Theaterreferent bei der Vossischen Zeitung. Ernst von Wolzogen überbringt einen gereimten Dank der Jugend, den die Januarausgabe von Zur guten Stunde abdruckt; danach bricht unter den Jungen Jubel los; die älteren Herrschaften schütteln mißbilligend die Köpfe. Fontanes Sohn Theodor bedankt sich im Namen der Familie „für alle dem Vater heute erwiesenen Ehren“. Neben weiteren Reden kommt auch Carl Löwes Vertonung von Fs Ballade Archibald Douglas zum Vortrag, wobei ein Teil der Anwesenden, wahrscheinlich aus Unkenntnis, mitten im Vortrag zu applaudieren beginnt. F schreibt rückblickend zu einem Vorfall am Ende des Abends, bei dem es offenbar zu einem offen ausgetragenen Zwist zwischen Moritz Lazarus und August von Heyden kommt: „Das unpassende Benehmen eines Bruchteils der einen Tafel hat mir freilich wie wohl auch vielen andern den Schluß des Festes verleidet und war, wie das Sprichwort sagt, der Hühnerdreck, der mir auf meinen Freudenteller fiel.“ Unter den Gästen sind u. a.: Friedrich Witte, Georg Friedlaender, Maximilian Harden, Justine und Julius Rodenberg, Rudolf Lindau, Erich Schmidt, Franz Servaes, Bertha Frenzel, eine Tochter Friedrich Spielhagens und ein Mr Lowe, wohl Korrespondent der Times; F „plaudert“ u. a. auch mit Hans Hoffmann (→ 11. 1. 1890); Witte notiert in sein Tagebuch: „Alle Theilnehmer waren sehr entzückt, vor Allem Fontane selbst und die seinen. Emilie war am 4 Januar recht elend, hielt sich aber doch; Martha dagegen war beide Male sehr frisch und genoss das Ganze mit vollen Zügen.“ [1] [2] [3] [4] [5] [6] [7] [8] [9] [10] [11] [12] [13]
- 04.01.1890
- Im Nachhinein resümiert F: „Das Fest war sehr hübsch, aber ein Glück, daß es vorbei. Sich still einspinnen, ist mein Metier und meine Lust.“ – „Es war ein Stück, in dem ich in einer bestimmten Rolle mitspielte, zugleich aber saß ich auch wieder im Parquet und alles zog wandelbildartig an mir vorüber. Ich darf sagen, halbe Stunden lang ging es mich gar nichts an und ich mußte mich immer wieder auf mich selbst besinnen. Der Gedanke, daß alles Irdische nur Bild, Vorstellung, Traum sei, hat mich nie so begleitet.“ – „Das moderne Berlin hat einen Götzen aus mir gemacht, aber das alte Preußen, das ich, durch mehr als 40 Jahre hin, in Kriegsbüchern, Biographien, Land- und Leute-Schilderungen und volkstümlichen Gedichten verherrlicht habe, dies ‚alte Preußen‘ hat sich kaum gerührt und alles (wie in so vielen Stücken) den Juden überlassen“. [14] [15] [16]
- 1: HFB 4,7–8 (F an Karl Frenzel, 5. 1. 1890); Gedichte 2,697
- 2: HFB 4,7–8 (F an Karl Frenzel, 5. 1. 1890); HFB 4,8 (F an August von Heyden, 5. 1. 1890)
- 3: HFB 4,7 (F an Karl Frenzel, 5. 1. 1890) (1. Zitat); FaJR 212 (Auszüge aus dem Bericht Ludwig Pietschs) (2. Zitat)
- 4: HFB 4,7 (F an Karl Frenzel, 5. 1. 1890)
- 5: HFB 4,7 (F an Karl Frenzel, 5. 1. 1890) (1. Zitat); HFB 4,13 (F an Paul Heyse, 15. 1. 1890) (2. Zitat) – eine Reihe von Zeitungsmeldungen gehen gesondert auf diese Rede ein, vgl. Bibliographie 35000690, 5889, 5890, 5892
- 6: Bibliographie 35000677
- 7: FaJR 215 (Auszüge aus dem Bericht Ludwig Pietschs)
- 8: HFB 4,7–8 (F an Karl Frenzel, 5. 1. 1890)
- 9: HFB 4,7 (F an Karl Frenzel, 5. 1. 1890)
- 10: HFB 4,8 (F an August von Heyden, 5. 1. 1890 [Entwurf])
- 11: HFB 4,7–8 (F an Karl Frenzel, 5. 1. 1890); HFB 4,10 (F an Maximilian Harden, 14. 1. 1890); HFB 4,20 (F an Georg Friedlaender, 28. 1. 1890); FaJR 208–209 (Auszüge aus Rodenbergs Tagebuch); Gunther Pistor: Die Fontanes und die Wittes. Ergänzungen zur Freundschaft zwischen beiden Familien nach Materialien aus dem Rostocker Stadtarchiv, in: FBl 42(1986),396f.; Kurt Schreinert: Allerlei Ungedrucktes über und von Theodor Fontane, in: JbDSG 4 (1960),380f.
- 12: Kat. 626, Stargardt, Marburg 1982,29
- 13: Friedrich Witte, Tagebuch 2, AHSR, NL Witte, Sign. 1. 4. 24.10, Bl. 79
- 14: FaH 324 (12. 1. 1890)
- 15: HFB 4,13 (F an Paul Heyse, 15. 1. 1890)
- 16: HFB 4,18 (F an Heinrich Jacobi, 23. 1. 1890)
Publications about Fontane
- 04.01.1890
- zahlreiche Berichte über diese Fontane-Feier im „Englischen Haus“ erscheinen in der Tagespresse [17]
- 04.01.1890
- Wilhelm Bölsche, Theodor Fontane als Lyriker. Zu des Dichters 70. Geburtstag, in: Die Gegenwart [18]
- 17: vgl. hierzu Bibliographie 35000669 bis 5900
- 18: Bibliographie 35000664; Gedichte 1,427; Helmut Richter (Hg.): Theodor Fontane und Wilhelm Bölsche. Eine Dokumentation, in: FBl 37(1984),392–397 (Abdruck)
Letter to Fontane from
- 04.01.1890
-
Grube, Max
Grube, der persönlich nicht an der Feier teilnehmen kann, schickt ein selbstverfaßtes Geburtstagsgedicht Franz Moor an Theodor Fontane! 4. Januar 1890 [19] - 04.01.1890
-
Heiberg, Hermann
Heiberg kann wegen einer Augenoperation nicht an der Feier teilnehmen und gratuliert brieflich [20]
- 19: Plaudereien 603; NyA 22,3,256f.
- 20: TFA Sign. Ca 1349
Events during that period
Event
- ** 01.12.1889 ** - 28.02.1890
- Plan zu einer Reise, wohl nach Südtirol (→ 4. 7. 1890) [21]
- 21: TFA Sign. Ca 1617 (F an Hans Hoffmann, 4. 7. 1890)
Work
- ** 01.09.1889 ** - ** 30.11.1890 **
- F notiert einen Entwurf zu einer Charakteristik Henrik Ibsens (vermutlich Herbst 1889) [22]
- ** 01.09.1889 ** - ** 30.11.1890 **
- Notizen über Realismus und Romantizismus (vermutlich Herbst 1889) [23]
- 22: Aufzeichnungen zur Literatur 361–368
- 23: Aufzeichnungen zur Literatur 375f.
Last change: 14.02.2024
(https://www.fontanearchiv.de/en/chronik/1890-01-04/)
Empfohlene Zitierweise: Roland Berbig: Theodor Fontane Chronik digital. Auf der Grundlage der »Theodor Fontane Chronik« (5 Bde., Berlin: De Gruyter 2010) hg. v. Theodor-Fontane-Archiv. Potsdam 2021ff. URL: https://www.fontanearchiv.de/en/chronik/1890-01-04/. Letzte Bearbeitung: 14.02.2024.
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