Algorithmik des Archivs
Im Zuge der Digitalisierung haben Archive gewissermaßen einen doppelten ›Körper‹ ausgebildet: Neben die materiellen ›Archivkörper‹ – bestehend aus handfesten Artefakten wie Handschriften, Drucken, Dingen oder analogen Audio- und Videoträgern – sind digitale Daten getreten: in Form von Erschließungsdaten in Katalogen und anderen Datenbanken, in Form von Digitalisaten der materiellen Objekte, in Form von Forschungsdaten, Text- und Metadatenkorpora. Im Forschungsschwerpunkt ›Algorithmik des Archivs‹ fragen wir – in enger Verknüpfung mit dem stärker infrastrukturell und vermittlungspraktisch orientierten Forschungsbereich ›Digitale Archive für Literatur‹ – danach, welche neuen Möglichkeiten der algorithmischen Erforschung sich aus dieser in ihrer Radikalität bisher kaum ausgeloteten Erweiterung des ›Archivkörpers‹ ergeben.
Den Schwerpunkt bearbeiten wir derzeit in einer Reihe von Mikro- und Prototypenstudien.
Laufende Studien & Projekte
Forschungsansatz
Die Projekte und Studien, durchgeführt im Rahmen des TFA.lab, begreifen wir als eine Reihe von Experimenten mit explorativem Charakter. Die Experimente bewegen sich dabei im Interferenzbereich von
archivarischer Datenhaltung und -verarbeitung,
musealer Objektinszenierung und -sortierung,
philologischen Techniken des nahen & fernen Lesens,
gestaltenden Praktiken der Diagrammatik und Aisthetisierung,
informatischen Routinen der Daten-Prozessierung.
Eingebunden in die Experimente sind entsprechend neben den Archiv- und Bibliotheksmitarbeiter*innen sowie den Literatur- und Medienwissenschaftler*innen des Theodor-Fontane-Archivs Kooperationspartner aus der Informationsvisualisierung, dem Forschungsdatenmanagement, der Informatik und der musealen Gestaltung.
Projektpraktiken
Die im Projekt durchgeführten Experimente bestehen jeweils aus einer Serie von Praktiken, die auf der Leitidee des ›Prozessierens‹ basieren: Die Daten, die das Archiv sammelt, werden schrittweise und regelbasiert transformiert. Dabei stehen folgende Prinzipien des Prozessierens im Vordergrund:
- Skalierung
- Permutierung
- Konstellierung
- Aisthetisierung
Indem wir diesen Prinzipien folgen, begreifen wir das Archiv nicht mehr allein als statischen Speicher, sondern als dynamischen Raum von Prozessen und Schnittstellen.
Das Archiv erweist sich so
- als Ort des permanenten Prozessierens von Daten,
- nicht nur als Substanz, sondern zudem als Performanz
- als Ort der interdisziplinären Interaktion, etwa in Hackathons.
Studie ›Eskalierende Kataloge‹
Zu den basalen Aufgaben von Archiven gehört die Erschließung ihrer Bestände. Diese erfolgt heute zumeist digital, in elektronischen Katalogen. Die Daten eines solchen elektronischen Katalogs, i.e. des Handschriften-Katalogs der Bestände des Theodor-Fontane-Archivs, sind Grundlage dieses Experimentes, in dem wir Möglichkeiten der Skalierung und der E-Skalierung der Katalogdaten ausloten.
Neben Verfahren der Häufigkeitsanalyse, etwa auf Schlagwörtern, wurden Algorithmen aus der multidimensionalen Skalierung auf den Erschließungsdaten getestet. Erste Ergebnisse zeichnen dabei eine Karte des Archivs als Archipel, auf dem sich u.a. einzelne Bestandsgruppen und Sammlungen des Archivs ›entdecken‹ lassen.
Studie ›Mapping Letters‹
Dass Theodor Fontane in seinem Leben weit über 10.000 Briefe geschrieben haben muss, gilt in der Forschung als gesichert. Fast 6.000 Briefe umfasst die auf dem Hanser Briefverzeichnis gründende, dieses stetig ergänzende Brief-Datenbank, die das Theodor-Fontane-Archiv derzeit aufbaut.
Auch wenn nicht wenige dieser Briefe heute als verschollen oder vernichtet gelten, sind in vielen Fällen zumindest die ›Metadaten‹ der Briefe überliefert, etwa die oder der Adressat*in, der Entstehungsort und das Datum.
Auf der Grundlage der ›Metadaten‹ lassen sich dabei quantitative Analysen durchführen, mit denen in einem ersten Schritt das postalische Ego-Netzwerk Theodor Fontanes – in seiner historischen Lückenhaftigkeit – beschrieben werden kann. Mit Verfahren und Instrumenten der Netzwerkanalyse lassen sich darauf aufbauend Visualisierungen gestalten, die einen optischen Eindruck u.a. von den Dominanzverhältnissen der überlieferten bzw. bekannten Briefe Theodor Fontanes vermitteln.
Projekt ›Lesespuren. Faltungen‹
Mit der sog. ›Handbibliothek Fontanes‹ bewahrt das Theodor-Fontane-Archiv eine philologisch bedeutende Sammlung von ca. 150 Bänden mit über 50.000 Seiten, die als Spurenträger der Autorschaft Fontanes Aufschluss über dessen Praktiken der produktiven Lektüre und des Gebrauchs von Büchern gibt.
In einem Projekt mit dem Team um Marian Dörk vom UCLab der Fachhochschule Potsdam werden visuelle Explorationsstrategien für diese vollständig digitalisierte, auf Einzelblattebene erschlossene und in Hinblick auf die Lese- und Gebrauchsspuren typologisch erfasste Sammlung erprobt. Unsere Forschungsfragen zielen dabei auf Möglichkeiten der ›Faltung‹ von und der ›Überschau‹ auf Sammlungen, die nur mit digitalen Praktiken als Ganze wahrnehmbar sind.