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Blogbeitrag15.12.2021

Lesespuren

Fontanes Alexis-Lektüren

Von Anna Busch

»Wer Bücher heimlich mit fortnimmt, der macht auch Striche hinein, und vielleicht sogar mit der Absicht, andere wissen zu lassen, was ihm am besten gefallen hat.« So äußert es im 26. Kapitel von Theodor Fontanes Quitt Ruth Hornbostel und ergänzt auf die Frage, woher sie das denn wisse: »Einfach genug. Weil ich es selber ein paarmal so gemacht habe.«

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Titeleinband der Erstausgabe von Theodor Fontanes »Quitt«, Berlin: Hertz, 1891, Signatur: 50/352

Wer Bücher heimlich mit fortnimmt, der macht auch Striche hinein, und vielleicht sogar mit der Absicht, andere wissen zu lassen, was ihm am besten gefallen hat.

Theodor Fontane, »Quitt«, entstanden 1885-1889, Erstdruck 1891, 26. Kapitel
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Ausschnitt aus Fontanes Handbibliothek in der Magazinaufstellung des Fontane-Archivs

Nicht nur die Fontane’schen Figuren bedienen sich solcher Anstreich- und Markierungssysteme, Theodor Fontane hat bei der Beschreibung solcher Szenen aus der eigenen Lektürepraxis berichtet. In den überlieferten Bänden seiner Bibliothek, die als eigene wertvolle Sondersammlung im Theodor-Fontane-Archiv bewahrt und gepflegt wird, finden sich zahlreiche, vor allem mit Bleistift ausgeführte Anstreichungen, Unterstreichungen, Hervorhebungen und Markierungen. Nicht selten stehen diesen Zeichensystemen handschriftliche Randbemerkungen Fontanes zur Seite, die Leseeindrücke wiedergeben, zusammenfassen, die Zustimmung oder Ablehnung ausdrücken, die korrigieren und ergänzende Einfälle und Verweise festhalten.

Die größte Anzahl solcher »Striche« und Marginalien von Fontanes Hand finden sich in den überlieferten Büchern Willibald Alexis‘. Fünf Alexis-Bände haben sich in Fontanes Handbibliothek erhalten:

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Willibald Alexis, Gesammelte Werke 4-8: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht 4, Berlin: Janke, 1861. Signatur: TFA-A-Q18.

»Alles Unsinn« schreibt Theodor Fontane zum Beispiel in sein Exemplar von Willibald Alexis’ Ruhe ist die erste Bürgerpflicht und das sei »[a]lles krankhaft«, eine »carrikirte Criminalgeschichte«. Dabei – auch das ist belegt – schätzte Fontane Willibald Alexis sehr, hielt sein Talent für größer als dasjenige Walter Scotts, mit dem er oft verglichen wurde. Tatsächlich sind verschiedene Lesedurchgänge der Alexis’schen Werke belegt. An Julius Rodenberg (1831-1914) schreibt Fontane am 4. Februar 1872: »Sie sind hoffentlich nicht böse, wenn es mit dem W.-Alexis-Aufsatz einen Monat längert [sic!] dauert. [Es] ist es aber unerläßlich, daß ich die Hauptwerke Härings alle noch mal durchlese. Mit den Cahanis bin ich fertig; es sollen nun Ruhe ist die erste Bürgerpflicht und Isegrimm folgen; dann Waldemar.«

Sehr viel häufiger als kritische Kommentare finden sich positive Anmerkungen von Fontanes Hand. Die geradezu jubelnden Ausrufe »sehr gut«, »brillant« oder auch »famos« gepaart mit zahlreichen Anstreichungen am Seitenrand bilden die Grundlage für die Rezensionen des Alexis’schen Werks, die Fontane auf seine reflektierende Lektüre und die Marginalien aufbaut. Den umfangreichen literaturkritischen Essay Fontanes, der erstmals 1872 in der von Julius Rodenberg (1831–1914) in Berlin redigierten Monatszeitschrift Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft unter dem Titel Wil[l]ibald Alexis erscheint, hat Fontane später aufgrund von Relektüren wiederholt umgearbeitet und neu veröffentlicht.

Die Praxis, sich Lesestoff anzueignen durch kommentierendes Mit-dem-Stift-in-der-Hand-Lesen, durch die Markierung besonders wichtiger, eindrücklicher, schöner oder auch in Zweifel zu ziehender Textstellen wird hier neben der selbstreferenziellen Gedankenstütze auch zu einer Kommunikation mit anderen Lesern und Leserinnen des Buches, mit einem Publikum. Auch das Publikum soll erfahren, was die Vor-Lesenden goutiert, abgelehnt, für hervorhebens- oder bedenkenswert erachtet haben. So werden die in Büchern angebrachten Zeichensysteme zur Dokumentation von Lektüreprozessen für nachfolgende Lese-Generationen. Sie schlüsseln Arbeitszusammenhänge auf und geben Einblick in Praktiken der Aneignung und Adaption. Das Buch wird zur Bühne der materialisierten Lesepraxis.

Geimeinschaftlich mit dem UCLab der Fachhochschule Potsdam ist eine Visualisierung aller im Fontane-Archiv erhaltenen Bände aus Fontanes Handbibliothek entwickelt worden. 

Weiterführende Informationen zu Fontanes Handbibliothek finden sich bei unseren Forschungsprojekten.

Die Restaurierung der Handbibliotheksbände im Jahr 2019 wurde durch die finanzielle Unterstützung der Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK) ermöglicht.