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Blogbeitrag18.03.2019

Der Mond über dem Stechlin

Zeitangaben in Fontanes Romanen

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Am 3. Oktober 1897 wurde das erste Heft eines neuen Jahrgangs 1897/1898 der Zeitschrift Über Land und Meer mit der ersten Fortsetzung des Stechlin ausgeliefert. Dieses Datum, an dem der Roman Stechlin das erste Mal vor die große Leseöffentlichkeit tritt, hat es in sich. Denn es ist auch ein 3. Oktober, an dem mit dem Besuch Woldemars und seiner Freunde im Herrenhaus Stechlin das erzählte Geschehen einsetzt (1. Kap.). Doch in welchem Jahr findet es eigentlich statt?

 (öffnet Vergrößerung des Bildes)Bild: TFA
Einband der ersten Buchausgabe, Der Stechlin, Oktober 1898

Die im Roman genannten Daten legen den Zeitpunkt des Geschehens zwar eindeutig in Fontanes unmittelbare Gegenwart, zugleich aber in eine gewisse chronologische Grauzone. Denn sowohl die internen Hinweise (wie Geburt, Altersangaben, Umzüge etc. der Stechlins und Barbys) als auch die externen (wie beispielsweise der Tod des Joao de Deus oder die Trauung des jungen Paares durch Hofprediger Frommel) »stimmen« in sich nicht und schon gar nicht zusammen. Daß dieses Verwischen der Zeit dem Autor nicht nur bewußt, sondern höchstwahrscheinlich beabsichtigt war, deuten zwei Bemerkungen an: zum einen jene zu den »Zahlen, die nicht gut widerlegt werden können und Landbuch Kaiser Karls IV. paßt beinah’ immer« (6. Kap.), zum andern die zu dem neuen Medium »Telegramm«, das sogar schon eintreffen könne, bevor das, was es berichtet, überhaupt geschieht (3. Kap.).

Die internen Daten legen die Geburt Woldemars auf einen Zeitpunkt »wenig mehr als ein Jahr vor Ausbruch des vierundsechziger Krieges« [31. Januar / 1. Februar 1864] (1. Kap.); d.h. Woldemar ist Ende 1862 oder Anfang 1863 zur Welt gekommen. »Du bist jetzt 32 oder doch beinahe« (5. Kap.) stellt sein Vater zu Beginn der Romanhandlung (Anfang Oktober) fest; d. h. es müßte sich um den Oktober des Jahres 1894 handeln. Dubslav geht im Frühjahr darauf »Gerad’ ins Siebenundsechzigste« (41. Kap.), war aber »erst nach zweimaliger Scheiterung siegreich durch das Fähnrichsexamen gesteuert und gleich danach bei den brandenburgischen Kürassieren eingetreten« und zwar zeitgleich mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. [1840] (1. Kap.). Danach wäre Dubslav also als etwa Siebenjähriger bei den Kürassieren eingetreten; und dies, nachdem er vorher zweimal durchs Fähnrichsexamen gefallen war. Das aber ist kaum möglich.x

Die externen Daten wirken auf den ersten Blick hin schlüssiger: Noch im Oktober findet der Ausflug zum Eierhäuschen statt und Woldemar erzählt von der Verehrung seines Lehrers, des Pastors Lorenzen für den portugiesischen Dichter Joao de Deus. »Er ist tot, aber seit kurzem erst …« (15. Kap.). Joao de Deus starb am 11. Januar 1896; das spricht für den Beginn der Handlungszeit im Oktober 1896. Rex und Czako erwähnen im Nachgespräch zu der Abendgesellschaft am 3. Oktober in Stechlin die Verurteilung des Hofpredigers Stöcker durch Wilhelm II. (4. Kap.). Diese wurde am 28. Februar 1896 ausgesprochen und am 10. Mai 1896 veröffentlicht; auch dies spricht für den Gesprächstermin im Oktober 1896. Infolgedessen müßte die Trauung des jungen Paares Armgard und Woldemar am Ende des Februar im Jahre darauf (33. Kap.) im Jahr 1897 stattgefunden haben. Doch Emil Frommel, der das Paar traute, ist bereits am 9. November 1896 gestorben. Und die Mission einer Abordnung des 1. Garde-Dragoner-Regiments nach England – »Nachdem wir ›Regiment Königin von Großbritannien und Irland‹ geworden sind, war ›dies uns drüben vorstellen‹ nur noch eine Frage der Zeit«, schreibt Woldemar, der im Roman dieser Abordnung »beigesellt« ist, an seinen Vater (23. Kap.) – fand in Wirklichkeit schon 1889 statt.

Bild: TFA

 

Literaturhinweis

Der Text »Der Mond über dem Stechlin« von Georg Wolpert erschien zuerst in Heft 106 (2018) der Fontane Blätter und wird hier in leicht modifizierter Form wiedergegeben. 

 

Auch hier also könnte gelten, was Hugo Aust in seinem Studienbuch zu dem Roman Stine anmerkt:
»Will man diese zeitlichen Verschiebungen nicht als Schnitzer des Autors auffassen […] und ihnen vielmehr eine Aussageabsicht unterstellen, so ergibt sich eine Spur, die ihren Verlauf durch absichtliche Verwischung anzeigt. Fontanes Realismus suchte demnach die postalische und kalendarische Genauigkeit, um sie im selben Zug aufzuheben. Der Eindruck, daß der Zeitverlauf nicht stimmt, daß also die Zeit gelegentlich aus den Fugen gerät, könnte dann zu dem gehören, was die Erzählung überhaupt zum Ausdruck bringt […].«x

Hier im Stechlin vielleicht weniger, weil »›Geschichtenerzähler‹, zumal die realistischen, ›verschwommen‹ denken müssen«x (Th. Mann: Briefe, Bd. 3, S. 527), sondern weil zum einen – so Pastor Lorenzen in seiner Grabrede – der alte Herr von Stechlin das hatte, »was über alles Zeitliche hinaus liegt« (43. Kap.) und weil zum andern der Text, der hier möglicherweise (wie ja oft) mehr weiß als der Autor, ganz im Sinne von Willibald Schmidts Diktum – »das Poetische hat immer recht; es wächst weit über das Historische hinaus …«x – einen subtilen chronologischen Hinweis ins Spiel bringen kann.

… denn ich habe mitunter mehr geschrieben, als ich wußte.

»Irrungen, Wirrungen« (25. Kapitel)

Und was könnte es poetischeres geben als den Mond? Denn mit dem Licht einer am Abend des 3. Oktobers über den Parkbäumen stehenden Mondsichel (4. Kap.) wirft der Text auch ein Licht in die Grauzone der chronologischen Unsicherheiten und Widersprüche hinein und gibt einen feinen Hinweis auf ein ganz konkretes Datum. Einen Hinweis, der zwar ganz für sich und gegen alle anderen steht, doch gerade, weil er so gut »versteckt« ist, ja geradezu absichtslos daherzukommen scheint, eine für Fontanes Sprachkunstwerke spezifische Signifikanz erhält. Der halbe Mond nämlich, der vor Mitternacht zu sehen ist, ist immer ein zunehmender Mond (nach Mitternacht ein abnehmender). Am 3. Oktober 1895 war Vollmond, 1896 Neumond. Am 3. Oktober 1897 allerdings war am Abend die Sichel des zunehmenden Mondes zu sehen.x Folgen wir also dem Mond, so setzt die Romanhandlung des Stechlin am 3. Oktober 1897 ein und endet am Tag vor dem Einzug des jungen Paares in Stechlin mit dem denkwürdigen Brief Melusines, der am 20. September 1898 bei Lorenzen eintrifft und diesen an den »in den Weihnachtstagen geschlossenen« Pakt erinnert: »es ist nicht nötig, daß die Stechline weiterleben, aber es lebe der Stechlin.« (46. Kap.)

Am 20. September 1898 ist Theodor Fontane gestorben.

Dieser Text von Georg Wolpert erschien zuerst in den Fontane Blättern in Heft 106 (2018) und wird hier mit leichten Modifikationen wiedergegeben.

Fußnoten

  1. Vgl. Helmuth Nürnberger: Wann war der alte Stechlin jung? Dubslavs problematische Lebensdaten. In: Ders., »Auf der Treppe von Sanssouci«. Studien zu Fontane. Würzburg 2016, S. 129–132. (Fontaneana; 15)
  2. Hugo Aust: Theodor Fontane. Ein Studienbuch, Tübingen und Basel 1998, S. 123.
  3. Ebd.
  4. Frau Jenny Treibel. 7. Kap.
  5. Wie genau Fontanes Erwähnungen des Monds tatsächlich sein können, zeigt uns das dritte Kapitel in Meine Kinderjahre: Hier erzählt Fontane von der Übersiedlung der Familie nach Swinemünde und die »Ankunft daselbst« am 27. Juni 1827. Von vielem »ganz eigenthümlich« berührt, versöhnt den kleinen Jungen der Blick durch die offene Hintertür des Hauses »in den Garten und auf den Abendhimmel, an dem eben die schmale Mondsichel sichtbar wurde.« Über Swinemünde stand am Abend des 27. Juni 1827 tatsächlich die noch ganz schmale Sichel des zunehmenden Mondes. Fontane unterscheidet also präzise zwischen »Mondsichel« (Der Stechlin) und »schmale Mondsichel« (Meine Kinderjahre).